Der 2020 Krisenblog
Einunddreißigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 13:50
Wir haben nun schon ein volles Monat in unserem Leben in der Zwischenzeit verbracht. Einer Zwischenzeit nach der Normalität vorher und vor der Normalität nachher, um welch letztere sich alle möglichen Fantasien ranken. Es sieht so aus, als hätten wir uns in dieser Zwischenzeit eingerichtet. Die beginnenden Öffnungen / Erleichterungen des Shutdowns verursachen (zumindest bei mir) jetzt ähnlich ambivalente Gefühle, wie sie das abrupte Ende unseres bisher gewohnten Alltags vor einem Monat hervorgerufen hatten. Es ist noch gar nicht klar, an welche Normalität wir uns dann zu gewöhnen haben werden, und wann das Gefühl eintreten wird, nicht mehr in einer Zwischenzeit, sondern in einer normalen Zeit zu leben – wobei zu den normalen Zeiten schon seit langem dazugehört, dass wir den Eindruck haben, sie enthalte auch viel an Abnormalität. Sei es durch den Klimawandel oder was auch sonst. Was kommen wird, das wird also erstens irgendwann, zweitens eine Stimmung von normaler und nicht temporärer Abnormalität sein. Und der Beginn dieser neuen Zeit wird nicht an einem Tag sein, den wir dann feiern können, sondern es wird ein schleichender Beginn sein. Irgendwann, und nicht alle gleichzeitig, werden wir feststellen, dass wir uns in keiner Zwischenzeit mehr befinden, sondern in der neuen Zeit. Ich glaube nicht, dass die uns dann gefallen wird. Aber das ist auch nichts Neues, das kennen wir schon.
Ich hoffe, dass ich und möglichst alle meine Freundinnen und Freunde dann finden werden, mir, ja, mir geht´s eigentlich gut. Aber die Welt als Ganzes, die ist halt nicht so, wie ich sie mir wünschen tät. Das wär schon was.
Die Auflösung zum gestrigen Rätsel findet man unten. Nein, das war nicht ich, der dieses Graffito angebracht hat.

Zweiunddreißigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 13:53
Heute gibt es keinen Tagebucheintrag. Es ist nämlich so: Ich habe einen geschrieben, und dann hatte ich den Eindruck, dass der gehörig missverstanden werden könnte. Dabei hat er ganz gut angefangen:
„Es kommt mir schon etwas seltsam vor, stets mit schlechtem Gewissen darauf hinweisen zu müssen, dass es mir/uns eigentlich gut geht und anderen eigentlich weniger. Ich sehe weniger ein Problem darin, dass es jemandem gut geht. Das größere Problem ist, dass es anderen schlecht geht. Und das größte Problem scheint mir zu sein, dass es Menschen braucht, denen es gut geht, um darauf hinzuweisen, dass es anderen schlecht geht. So von der demokratischen Grundidee her könnte es ja so sein, dass die Stimme der schlechter Gestellten genau so laut wäre wie jene der besser Gestellten. Ist aber nicht.“
Und dann der zweite Absatz:
„Ich weiß, das hat seine Gründe, und einer dieser Gründe ist auf nationaler Ebene die Angst vor dem „Pöbel“, neuerdings auch befeuert durch die Erfolge der Rechten, die diesen vermeintlichen Pöbel repräsentieren. Auf globaler Ebene ist es die Angst davor, dass die Menschen des globalen Südens nicht unter sich bleiben, sondern sich auf den Weg machen dorthin, wo vergleichsweise Milch und Honig fließen. Von denen will man sich nichts dreinreden lassen, und das ist nicht ganz unverständlich. Es ist nicht sicher, ob bei zu heftigen Nordwanderungen nicht auch die Probleme Afrikas nach Europa kommen.“
Der ist schon schwieriger, und ich stelle mir vor, dass der eine oder andere meinen könnte, ich schließe mich den Fremdenfeinden und den Mauerbauern an, obwohl ich das nicht tue, sicher nicht. Problematisch also. Dabei wären die letzten Absätze dann eh wieder korrekter, denke ich:
„Der Pöbel und die Migration. Beides sind vermeintlich gute Gründe dafür, dass wir lieber ein bisserl ein schlechtes Gewissen bei unserem guten Leben haben und dass wir lieber selber für die Ärmeren sprechen, als sie selbst sprechen zu lassen.
By the way: muss man sie „sprechen lassen“? Ist ja auch eine paternalistische Formulierung. Sie sollten sprechen, uns widersprechen und ihre Interessen vertreten. Das könnte dann ziemlich bitter werden. Aber eigentlich wärs das dann: Der demokratische Diskurs. Deliberative Demokratie. Vielleicht sogar international.
Natürlich ist es bequemer, es bei dem zu belassen, was ist. Und aus guter Position heraus den Ärmeren zu klatschen. Und die Ausrede, die wir haben, und die stimmt sogar: Sie müssen selbst laut werden.“
ihr versteht, dass ich das nicht poste. Zu unfertig. Und eine zu große Gefahr, aufgrund einzelner Sätze falschen Applaus zu erhalten. Deswegen gibt´s heute keinen Tagebucheintrag.
Nächtens hörte ich die Nachtigall singen. Nicht so nahe, wie ich sie gerne hätte, aber es ist ihr gutes Recht, Abstand zu halten. Und heute flatterten in der Dämmerung mindestens zwei Fledermäuse über unseren Garten. Wir beobachteten sie zu dritt.
Morgen gibt´s dann wieder einen Tagebucheintrag aus der Zwischenzeit. Den schreib ich dann vielleicht an meinem aufgeräumten Schreibtisch.

Dreiunddreißigster Beitrag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 13:56
Was mich etwas erstaunt: Mit welcher Energie in Deutschland und in Österreich darum gestritten wird, ob große Geschäfte erst einige Wochen später aufsperren dürfen. Als hinge das Bestehen des freiheitlichen Rechtsstaates dran. Ein Vertreter des Autohandels hat sich da besonders ins Zeug gelegt. Des Autohandels!
Überhaupt: Schön langsam verlieren sich die Hoffnungen jener, die so schnell wie möglich wieder zu business as usual wechseln wollten. Damit sind wohl auch die Vorstellungen obsolet, dass nach einer kurzen Unterbrechung alles wieder so weitergehen könnte wie bisher. Vieles ja, aber von alles kann keine Rede sein.
Richtig – mein Schreibtisch ist immer noch unaufgeräumt. Unaufgeräumter Schreibtisch = unaufgeräumter Kopf? Wäre ein aufgeräumter Kopf besser? Ein schön geordneter? In dem nicht alles mit allem zusammenhängt, einander berührt? Jedes Projekt zum anderen, jede Sinnwelt zur nächsten einen Sicherheitsabstand einhält?
Die Tiere des Tages sind die Rehe, die in Herdenformation über die Felder laufen, um dann in einem Wäldchen zu verschwinden. Sie veranlassen mich zum Innehalten bei meinem Rundgang. Ich wundere mich, mit wie wenig Wald sie sich zufriedengeben.
Inzwischen haben sich die Wolken verzogen und mein Leitstern, die Venus, steht wieder gut sichtbar vor mir am Himmel, genau in der Mitte zwischen zwei Baumkronen.
Die Gartenzwerge halten den Mindestabstand nicht ein. Was will man von Wichteln auch anderes erwarten?

Vierunddreißigster Beitrag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 13:59
Es ist Samstag und ich habe mir eine Pause verdient. Daher lasse ich Severin Gröbner mit einem Ausschnitt aus seiner Glosse in der Wiener Zeitung zu Wort kommen:
„Die dümmste aller möglichen Corona-Phrasen ist aber zweifelsohne: "Vor dem Virus sind alle gleich." Wirklich? Dann würde ich den Menschen, die das im Brustton der Überzeugung gerne von sich geben, empfehlen, sich aus ihrer Hietzinger Villa hinaus zu begeben und eine hübsche, kleine 50 m2 große Wohnung an der Südosttangente oder dem Gaudenzdorfer Gürtel beziehen. Zusammen mit vier Kindern (drei davon schulpflichtig), kaum Sonneneinstrahlung, mit HomeOffice, Home-Schooling, aber nur einem Laptop. Dann dürfen die einmal am Tag das Fenster öffnen (öfter wird das bei der Lärm- und Feinstaubbelastung eh keiner wollen) und hinausbrüllen: "Vor dem Virus - hust hust - sind alle - hust hust- gleich!“
Und wem da nicht auffällt, dass er vielleicht ein bisschen daneben liegt, der darf die nächstgelegene Intensivstation desinfizieren, Pakete ausfahren, Essen zustellen oder bekommt ein Gratis-one-way-Ticket nach Moria auf Lesbos. Dort kann er dann der örtlichen Bevölkerung und den auf engstem Raum zusammengepferchten vor Krieg und Hunger geflüchteten Menschen wortreich erklären, warum sich Österreich weigert, ein paar Kinder aus diesen Zuständen zu befreien. Solange er will. Bis ihm die Luft wegbleibt.
Ups. Schlechter Vergleich.
Man sieht: Corona hin, Corona her . . . Die Kurve der viralen Phrasenpandemie gehört abgeflacht. Oder anders gesagt: Abstand halten ist wichtig. Goschen halten manchmal auch.“
Mein Tier des Tages ist ein Greifvogel, der mir bei meiner Tour am Waldrand begegnete. Er betrachtete mich Näherkommenden nachdenklich, sichtlich überlegend, ob es denn der Mühe wert wäre, vor mir zu flüchten. Erst als ich mich auf zwei Meter genähert hatte, bequemte er sich und flog davon. Nach Hause zurückgekehrt konsultierte ich einschlägige Websites, um ihn anhand seines Flugbilds zu bestimmen. Seither bin ich sicher, dass es kein Bussard und kein Adler war. Viel mehr weiß ich nicht. Sperber, Habicht, Weihe – ja, sowas gibt’s auch – könnte sein. Am ehesten vielleicht ein Wanderfalke. Unergründliche Natur. Mein lieber Nachbar Leopold Kanzler, Kenner der hiesigen Fauna und brillanter Tierfotograf, kann mich da sicher aufklären.
Genießt´s das Wochenende! Vielleicht kann Euch Hailu Mergia dabei unterstützen, der wunderbare Musiker aus Äthiopien.
Fünfunddreißigster Tag
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- Erstellt am Sonntag, 23. November 2025 14:02
Ich spaziere durch eine intensiv duftende befeuchtete Landschaft. Dazu mischt sich örtlich das Aroma der aufblühenden Fliederbüsche. Ich nehme mir vor nachzusehen, wie oft Wien in seiner Geschichte von Epidemien heimgesucht wurde.
Bisherige Epidemien in Wien (Auswahl):
1381 Pest
1410/11 Pest
1436 Pest
1506, 1521, 1541, 1563, 1570, 1586, 1654/55 und 1679. Auch alles die Pest.
1753 Pocken
1784, 1786, 1787, 1790, 1794, 1796 und 1800 die Pocken
1831/32 Cholera
1836, 1849, 1854/55, 1866 und schließlich 1873, im Weltausstellungsjahr, die Cholera
1872 Blattern
1918 Spanische Grippe
Einen „Epochenbruch“ brachte keine dieser Epidemien. Nur die Spanische Grippe fiel zufällig zeitlich mit einem tatsächlichen Bruch in der Geschichte zusammen.
Was brachte letztlich den Erfolg? Quarantäne- und Hygienemaßnahmen und ab dem 19. Jahrhundert Impfungen. Widerstand gegen die Eindämmungsmaßnahmen war immer da, und dessen Vertreterinnen und Vertreter waren wohl auch damals schon überzeugt, dass sie Verfechter der „Freiheit“ seien. Dem lobenswerten Ideal der Freiheit erwiesen sie damit damals und erweisen sie heute keinen Dienst.
So viele Plakate, die auf Nicht-Veranstaltungen hinweisen ...



