Der 2020 Krisenblog

Zweiunddreißigster Tag

Heute gibt es keinen Tagebucheintrag. Es ist nämlich so: Ich habe einen geschrieben, und dann hatte ich den Eindruck, dass der gehörig missverstanden werden könnte. Dabei hat er ganz gut angefangen:
„Es kommt mir schon etwas seltsam vor, stets mit schlechtem Gewissen darauf hinweisen zu müssen, dass es mir/uns eigentlich gut geht und anderen eigentlich weniger. Ich sehe weniger ein Problem darin, dass es jemandem gut geht. Das größere Problem ist, dass es anderen schlecht geht. Und das größte Problem scheint mir zu sein, dass es Menschen braucht, denen es gut geht, um darauf hinzuweisen, dass es anderen schlecht geht. So von der demokratischen Grundidee her könnte es ja so sein, dass die Stimme der schlechter Gestellten genau so laut wäre wie jene der besser Gestellten. Ist aber nicht.“
Und dann der zweite Absatz:
„Ich weiß, das hat seine Gründe, und einer dieser Gründe ist auf nationaler Ebene die Angst vor dem „Pöbel“, neuerdings auch befeuert durch die Erfolge der Rechten, die diesen vermeintlichen Pöbel repräsentieren. Auf globaler Ebene ist es die Angst davor, dass die Menschen des globalen Südens nicht unter sich bleiben, sondern sich auf den Weg machen dorthin, wo vergleichsweise Milch und Honig fließen. Von denen will man sich nichts dreinreden lassen, und das ist nicht ganz unverständlich. Es ist nicht sicher, ob bei zu heftigen Nordwanderungen nicht auch die Probleme Afrikas nach Europa kommen.“
Der ist schon schwieriger, und ich stelle mir vor, dass der eine oder andere meinen könnte, ich schließe mich den Fremdenfeinden und den Mauerbauern an, obwohl ich das nicht tue, sicher nicht. Problematisch also. Dabei wären die letzten Absätze dann eh wieder korrekter, denke ich:
„Der Pöbel und die Migration. Beides sind vermeintlich gute Gründe dafür, dass wir lieber ein bisserl ein schlechtes Gewissen bei unserem guten Leben haben und dass wir lieber selber für die Ärmeren sprechen, als sie selbst sprechen zu lassen.
By the way: muss man sie „sprechen lassen“? Ist ja auch eine paternalistische Formulierung. Sie sollten sprechen, uns widersprechen und ihre Interessen vertreten. Das könnte dann ziemlich bitter werden. Aber eigentlich wärs das dann: Der demokratische Diskurs. Deliberative Demokratie. Vielleicht sogar international.
Natürlich ist es bequemer, es bei dem zu belassen, was ist. Und aus guter Position heraus den Ärmeren zu klatschen. Und die Ausrede, die wir haben, und die stimmt sogar: Sie müssen selbst laut werden.“
Ihr versteht, dass ich das nicht poste. Zu unfertig. Und eine zu große Gefahr, aufgrund einzelner Sätze falschen Applaus zu erhalten. Deswegen gibt´s heute keinen Tagebucheintrag.
Nächtens hörte ich die Nachtigall singen. Nicht so nahe, wie ich sie gerne hätte, aber es ist ihr gutes Recht, Abstand zu halten. Und heute flatterten in der Dämmerung mindestens zwei Fledermäuse über unseren Garten. Wir beobachteten sie zu dritt.
Morgen gibt´s dann wieder einen Tagebucheintrag aus der Zwischenzeit. Den schreib ich dann vielleicht an meinem aufgeräumten Schreibtisch.
 
2025-11-23 um 14.51.40