Der 2020 Krisenblog

Achter Tag

Wie immer tobt ein Kampf um die Interpretation dessen, was wir gerade erleben. Wobei: „Wir“ erleben nicht alle das Gleiche. Gewiss, es gibt einiges, was wir gemeinsam haben. Zum Beispiel, dass seit Wochen abends im Westen die Venus kräftig leuchtet. Heute ist sie der einzige „Stern“, der den Dunst durchdringt. Oder dass zwischen uns die Autobusse ihre einsamen Runden ziehen.
Die Aufregung über das türkis eingefärbte „Team Österreich“ scheint mir überzogen. Es ist einer der zwar üblichen, aber doch vergeblichen Versuche, in Volksgemeinschaft zu machen. Die Wiener SPÖ hat das in den 1990ern mit „Team für Wien“ versucht, auch so ein schwammiges Ding zwischen Vorfeldorganisation der SP und Engagement für die Stadt. Hat nicht geklappt. Volksgemeinschaft ist nicht das, was die Leute wollen. Zu den Hoch-Zeiten des Konzepts ging es auch nur auf, wenn ordentlich Druck dahinter gesetzt wurde. Am günstigsten in Form von Terror gegen alle, die sich nicht fügen wollten.
Für die, die dieses Gefühl der Volksgemeinschaft mögen, gibt es heute die Gabalier-Open Airs. Schon allein daran sieht man, wie heruntergekommen diese Idee ist.
Man muss überhaupt erst auf die Idee kommen, die Venus anzuschauen, oder an den Bussen nicht die Leere, sondern die trotzige Regelmäßigkeit zu erkennen. Daher wird es weder eine rechte noch eine linke Volksgemeinschaft geben. Das ist der Vorteil der allgemeinen Meckerei und Besserwisserei, ja auch der manchmal ärgerlichen Egozentriertheit: Lästig, aber auch ein Anti-Einheits-Mittel.
Heute scheinen alle aufgewacht zu sein, der erste „normale“ Arbeitstag. Plötzlich werde ich mit Mails bombardiert, was denn nicht alles in kürzester Zeit zu liefern, zu entscheiden, zu erledigen sei. Jetzt, wo ja eh alle so viel Zeit haben. Interessant.
Heute ist der erste Tag, an dem ich glatt vergessen habe, mir neben dem abendlichen Kochen ein Bier einzuschenken. Auch eine Art der Verwahrlosung.
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Siebenter Tag

Bis jetzt halten wir die Isolation noch recht gut aus. Für mich, meine engere Familie, und viele andere ist es ein komfortables Unglück. Man kann sich sogar über einiges freuen: Wie schnell viele gelernt haben, die digitalen Medien für die Sozialkontakte und die Arbeit zu nutzen; über die Live-Performances von Künstlerinnen und Künstlern auf Facebook; über die Meldungen von hilfsbereiten Menschen.
Aber wie lange werden wir die Enge aushalten? Wann und wie sehr wird die Gereiztheit steigen? Werden Niedergeschlagenheit und Depressionen sich ausbreiten, werden angesichts sich voraussichtlich häufender Katastrophenmeldungen die Angst und die Unsicherheit wachsen? Wann wird die Ruhe da draußen nicht nur erstaunlich und seltsam, sondern bedrückend sein, wird zu einer schreienden Ruhe werden?
Erste kleine Anzeichen gibt es bereits im näheren sozialen Umfeld: Eine Kollegin, deren Sohn erkrankt ist, eine junge Frau, die nach ihrem Pflegestudium mit der noch wenig koordinierten Vorbereitungspanik des Spitals und der Behörden konfrontiert ist und Angst vor dem hat, was da auf sie zukommt.
Die Einschläge kommen näher. Und in den nächsten Wochen sind gehäufte Hiobsbotschaften aus der ganzen Welt zu erwarten, begleitet von zahllosen Kommentaren und Prophezeiungen. Es wird schwieriger werden für die Regierung, mit ihren Botschaften durchzukommen. Der Stress wird für viele Menschen sehr groß werden. Für jene, die nicht zu Hause bleiben können, und für jene, die zu Hause bleiben müssen.
So lange diese Krise noch relativ komfortabel ist, sollte man Kraft tanken, sage ich mir, sollte sich ein gutes Leben machen, um bereit zu sein für die Stresszeiten, die kommen werden. Zeiten, in denen man sich intensiv um jene kümmern muss, die direkt gefährdet sind oder die an Begleiterscheinungen der Krise zu verzweifeln drohen.
Währenddessen ergreift Orban in unserem Nachbarland die Gelegenheit, in seiner „illiberalen Demokratie“ einige entschlossene Schritte in Richtung Diktatur zu machen. Anhänger*innen autoritärer Systeme und Fans eines Polizeistaates haben vermehrt feuchte Träume.
Sonne heute Morgen, Wind, Kälte zum Frühlingsbeginn. Die Mittagsglocken waren deutlich zu hören wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Zuerst die Großjedlersdorfer, dann die Stammersdorfer, dann die Strebersdorfer. Ländlicher Sound. Geschätzte acht Fußballspiele haben dieses Wochenende nicht in Großjedlersdorf stattgefunden. Die Heurigen waren geschlossen und leer. Alle Menschen, denen ich bei meinen Kurzwanderungen begegnete, wichen mir aus. Manche aber lächelten zurück, wenn ich sie anlächelte.

Sechster Tag

Die Tulpen entsorgt. Ab sofort nur mehr Blümlein aus dem eigenen Garten auf dem Tisch.
Am härtesten trifft mich der Verlust der Kaffeehäuser, Espressi, Wirtshäuser. Im Alter von 14 Jahren habe ich begonnen, wesentliche Teile meiner Tage in solchen Etablissements zu verbringen. Sie waren stets meine eigentlichen Wohnzimmer in dieser Welt. Und nur dort konnte ich konzentriert kreativ arbeiten. Jetzt hätte ich einige Texte zu schreiben, und ich weiß nicht, wie ich das machen soll, wenn ich keine Gaststätten zur Verfügung habe. In der häuslichen Ruhe / Unruhe kann ich lektorieren, ausbessern, mich durch Bücher ackern, aber keine längere Abfolge von sinnvollen und zusammenhängenden Sätzen produzieren, meine Gedanken bleiben hier bieder, wie in einem Gefängnis. Ich werde Kaffeehaussimulationen, einen Café-Ersatz finden müssen. Aber was kann die anderen Menschen ersetzen?
Die Spaziergänge heute waren erfrischend aufgrund der gesunkenen Temperaturen, aber viel einsamer. Wie lange werden wir noch über diese Stille berichten? Wie lange werden noch Fotos von leeren Straßen und Plätzen gepostet werden? Werden wir dann, wenn alles wieder anläuft, den Lärm für unerträglich finden? Zumindest drei Tage lang?
Jetzt wünsch ich mir von den leeren Straßen noch die parkenden Autos weg. Sollen die die Leute auch in die Wohnung mitnehmen. Was könnte man dann für Stadtfotos machen …
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Fünfter Tag

Freitag. Die erste Krisen-Arbeitswoche all jener Personen, die einen monday to friday / nine to five (oder so ähnlich) Job haben, ist zu Ende gegangen.
Mir fallen diese Mini-Ungleichzeitigkeiten auf, die so viel Aufregung verursacht haben. Wir haben alle einige Tage gebraucht, um zu begreifen, dass es ernst werden könnte und daher rigide Umstellungen erforderlich sind. Einige waren zwei bis drei Tage früher dran, einige später. Man hat jeweils jene, die schon ein bisserl früher begriffen haben, als Panikmacher*innen angesehen, und jene, die ein bisserl hinterherhinkten, als Ignorantinnen / Ignoranten.
Wir beobachten „in a nutshell“ etwas, was sich mit geringerem Tempo, aber von noch heftigerer moralischer Aufplusterung begleitet in unseren Gesellschaften ereignete: Jene, die selbst erst in den letzten Jahrzehnten gelernt hatten, dass es nicht ok ist, Frauen und Kinder zu prügeln, hielten diese Einsicht für eine tief in der christlichen Kultur verwurzelte Achtung vor den Menschenrechten, und verachteten jene, die aus (noch) patriarchal strukturierten Gesellschaften kamen, als nicht würdig, auch gleichberechtigt zu sein.
Man läuft Gefahr, ganz wucki zu werden vor lauter Nachrichten, Berichten, Belehrungen, Kurzmeldungen, Debatten. Mein Tipp: Einmal die üblichen Sender wegschalten, die (vlt. wohlgemeint) ein Übermaß an Blabla über uns ausschütten, auch wenn dieses durchaus manchmal Hand und Fuß haben mag. Statt dem Abendjournal, der x-ten Sondersendung und den vielen Interviews ganz einfach gute Musik laufen lassen. Ich empfehle Lounge FM als Soundtrack zu Hause. Schöne, entspannte Musik, deren Niveau nie unter das Level des Ertragbaren sinkt.
Bis morgen!
 
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Vierter Tag

Es ist warm, es ist sonnig, der Frühling ist da. Ich mache meinen Mittagsspaziergang am Marchfeldkanal, so wie andere auch. Väter mit ihren Kindern, Mütter desgleichen, viele sind allein unterwegs auf dem Fahrrad, laufend, gehend. So gut wie alle achten sorgfältig darauf, großen Abstand einzuhalten. Es macht nicht den Eindruck, als wären diese Menschen leichtsinnig.

 

Immer wieder gehe ich durch Duftwolken, mit denen die blühenden Sträucher ihre Existenz anzeigen, Bienen sind unterwegs, eine erste Hummel habe ich auch schon gehört. Eine Joggerin läuft mit Respektabstand an mir vorbei und zieht Maiblümchenduft hinter sich her. Amseln, Meisen, Spatzen, Türkentauben, Elstern sehe ich, eine Frau Schwan, die ihr Nest baut. Den Gesang der Vögel hört man besser, da das Hintergrundgeräusch des Verkehrs leiser ist als auch schon.

 

Mich hat schon vor langer Zeit diese mögliche Gleichzeitigkeit des Schönen, Idyllischen, mit dem Schrecken beschäftigt. Tiere, Pflanzen, Wetter sind gleichgültig gegenüber menschlichem Elend, so lange sie können. Aber jetzt und hier ist noch kein Schrecken da.

 

Maurizio Ferraris, Philosoph an der Universität Turin, schreibt heute in der NZZ: „Wenn uns das Virus beschäftigt – was durchaus richtig ist –, dann deshalb, weil wir über ein fortschrittliches Gesundheitssystem verfügen. Dieses System kann in eine Krise geraten – noch vor fünfzig Jahren hätte sich das Problem gar nicht gestellt, und wir hätten die Pandemie wie ein Schicksal ertragen. Das Virus hätte ein brutales Blutbad angerichtet, wenn auch nicht ein solches wie vor hundert Jahren die Spanische Grippe, weil das Coronavirus trotz allem viel weniger aggressiv ist. Unsere Sorgen sind also – recht bedacht – ein unwiderlegbarer Beweis für die Tatsache, dass die Menschheit sich zum Guten entwickelt, dass die Wissenschaft laufend Fortschritte macht und dass die Medizin ein Wissen ist, dem wir huldigen sollten, statt dahinter das Komplott böser multinationaler Firmen zu vermuten.“

 

Wir leben als privilegierte Menschen an einem privilegierten Ort in einer privilegierten Zeit. Das bewahrt uns nicht vor jedem möglichen Tod, und es bewahrt uns nicht vor seltsamer Empörung, zum Beispiel jener über „Freiheitseinschränkungen“. Vielleicht bin ich naiv, wenn ich mich darüber freue, dass ein demokratischer Staat soeben seine Handlungsfähigkeit beweist.

 

Diese Naivität gönne ich mir. An einzelnen Personen in der Regierung oder an einzelnen Maßnahmen herumzumäkeln erspare ich mir. Ich will geistig gesund bleiben. Irgendwann brauche ich ja vielleicht noch meine Kraft für jene Zeiten, in denen sehr wohl die Freiheit verteidigt werden muss.

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