Der 2020 Krisenblog

Einundzwanzigster Tag

Der Regierung gelingt es, uns zu verwirren, während sich die Verlaufskurven im Hintergrund abzuflachen beginnen und uns schwant, dass die nun kommende Wirtschaftskrise opferreich werden könnte. Die schönen Träume, dass die Welt danach eine bessere sein könnte, wirken zu bemüht. Die Meldungen aus Ecuador von Leichen auf den Straßen sind Vorboten erwartbarer weiterer Meldungen aus den weniger glücklichen Ecken des Planeten. Inzwischen werden auch jene lauter, die eine Herdenimmunität erreichen wollen. Sie machen mir tatsächlich etwas Angst, wie viele Menschen wollen sie völlig isolieren, wenn draußen sich das Virus frei verbreitet und alle ihrem Tagwerk öffentlich nachgehen?

 

George Orwell (ja, der!) hat 1945 ein Essay über Nationalismus geschrieben, vor kurzem ist es auf Deutsch erschienen. Unter Nationalismus versteht er ganz allgemein nicht die Verbundenheit mit dem „eigenen“ Land, sondern die gelebte Überzeugung, dieses sei allen überlegen und der Rest der Welt habe sich nach ihm zu richten. Interessant ist, dass er auch andere Formen dieser jeder Überlegung bereits vorgeordneten Entscheidung über Gut und Böse, verzeihlich und unverzeihlich, als Nationalismus bezeichnet – aus Mangel an einem besseren Wort, wie er schreibt. So gehören für ihn auch der politische Katholizismus, der Kommunismus, der Trotzkismus dazu – heute würde er wohl auch noch den politischen Islam und einige andere Varianten dazuzählen. Nationalismus braucht also kein Land, es reicht auch eine Sache. Wesentlich sei die Bereitschaft, sich alles so zurechtzulegen, dass es die Überlegenheit der eigenen Sache bestätige, und die faszinierende Fähigkeit, nicht dazupassende Fakten völlig auszublenden.

 

Ja, ich hab das gestern Abend gelesen. Ein schmaler Text, viele der Argumente nicht unbekannt, in der Kompaktheit doch wieder gut. Und ich habe wieder eine Erklärung für meine leicht allergischen Reaktionen auf manch hingerotzte Erklärungsversuche, das sei jetzt alles ein Ausdruck des spätkapitalistischen Wahnsinns, des Unsinns der Globalisierung, der Überlegenheit Chinas, des Endes der EU oder was auch immer.

 

Der Palmsonntag ist auch schon wieder fast vorbei. Zeit, ein wenig mit Frühlingsfotos zu spielen, während mich als Dauergeräusch das Summen der hunderten Bienen begleitet, die die blühenden Kirschbäume abernten.

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Zweiundzwanzigster Tag

Jetzt haben wir also eine Perspektive, und es wird zur Gewissheit, dass es noch lange dauern wird, bis alles wieder auf Vollbetrieb läuft und wir zurückschauen können auf diese Zeit des Shutdowns. Es ist auch klar, dass es nicht den einen Tag geben wird, an dem wir alle feiern können, sondern eine Reihe von Tagen, in größerem Respektabstand zueinander. Der erste Theaterbesuch? Wohl erst im Herbst. Das erste Fußballmatch mit Publikum? Frühestens im Juli, aber darauf würde ich auch keine Wetten abschließen. Die Rumänienrundreise im Sommer? Das wird nix. Und ein Uni-Seminar mit physischer Präsenz – auch erst im Herbst.
Nicht dass das verwundert, das war zu erwarten. Jetzt wissen es aber auch alle, die sich nicht mit Verlaufskurven und mit epidemiologischen Logiken beschäftigt haben, wenn es denn solche Menschen noch gibt. Und ich nehme an, dass es immer schwieriger wird, das vielen Menschen zu erklären, wenn gleichzeitig die Neuerkrankungen gegen null tendieren. Ich möge mich irren.
Die Menschen, die mit Verve ihre Alternativvorschläge in Anschlag bringen, werden auf den fatalen wirtschaftlichen Schaden hinweisen, den die rigiden Maßnahmen verursacht haben werden. Und Recht werden sie haben. Die Verteidiger*innen der getroffenen Maßnahmen werden hoffentlich nicht nur auf die geretteten Menschenleben hinweisen, sondern auch darauf, dass dieser wirtschaftliche Schaden andernfalls ebenso eingetreten wäre, dann allerdings als Folge einer ungezügelten Pandemie und mit dem Kollateralschaden von tausenden Toten in diesem Land. Daraufhin werden einige darauf hinweisen, dass statistisch gesehen die Zahl der insgesamt Verstorbenen in diesem Jahr in diesem Land kaum bis gar nicht höher wäre, als im Jahr zuvor und im darauffolgenden Jahr.
Und alle werden sie Recht haben, auf ihre Weise.
Ich meinerseits bin bis jetzt zufrieden damit, wie im Großen und Ganzen dieses Land durch diese Krise geführt wird, wie es auch schon unter einer anderen Regierung, das war damals eine SP-geführte große Koalition, ziemlich gut durch die Krise 2008ff geführt worden war. So verkommen und niederträchtig, wie es manchmal erscheinen mag, ist unser demokratisches System denn doch nicht, auch wenn über einiges noch zu reden sein wird.
Und jetzt verspreche ich schon, dass ich morgen wieder einige Schritte zurück machen werde, und mich eines leichteren und distanzierteren Blicks auf die Entwicklungen befleißigen werde.
Für den Herrn Sohn ist das nun eine Gelegenheit, sich mit der Fußballgeschichte zu beschäftigen. Frühere Highlights, denkwürdige Matches, umstrittene Fouls und Elfmeter, denkwürdige Aktionen von großartigen Spielerpersönlichkeiten werden nun auf den Sportplattformen angeboten.
Als Fotos gibt es heute ein Detail des Stamms einer Birke und einen Uferblick. Beides von meinem Freiluftarbeitsplatz aus aufgenommen.
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Dreiundzwanzigster Tag

Wie ist das mit der Freiheit in diesen Zeiten? Worin besteht sie? Ist sie gegangen und besteht die Gefahr, dass sie nicht wiederkommt, zumindest nicht in dem Ausmaß, das „vorher“ da war?
Bisher sind alle Einschränkungen, die wir erleben, nachvollziehbar, vorausgesetzt, man verlangt nicht für sich selbst das Recht, das Wohl des Gemeinwesens zu ignorieren, von dessen Funktionieren ja auch jeweils unsere individuellen Möglichkeiten des Lebens abhängen. Man könnte also sagen, dass das akzeptieren der Einschränkungen in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse liegt. Wir sichern so das Funktionieren der Gesellschaft, ohne die wir unsere Pläne nie verfolgen könnten.
Interessant ist dabei allerdings, dass wir so gravierende Beschränkungen wie zum Beispiel die unserer Bewegungsfreiheit relativ gelassen hinnehmen. Zugegeben, sie wird zumindest teilweise substituiert durch die Verfügbarkeit des Internet. Aber: es gibt Grenzschließungen, und das wohl auf längere Zeit. Werden wir uns an die gewöhnen? Wird der Massentourismus wirklich gleich nach Ende der Krise wieder voll hochfahren und werden wir die Welt wieder kreuz und quer bereisen? Oder lernen wir in diesen Monaten, dass das auch eine – möglicherweise überflüssige – Form der Alltagshektik ist? Die Austrian Airlines scheinen das zu fürchten. Sie meinen, dass sie erst 2023 wieder einen Geschäftsgang wie vor der Krise haben werden. Macht mir das Sorgen?
Vorerst können wir sagen, was wir wollen. Dass uns jemand widerspricht, das war auch früher schon so und nur die Rechten fanden bisher, wahre Meinungsfreiheit hieße, dass sie immer Recht behalten. Vorerst können wir uns zwar nicht in Real Life, aber via Internet, anschauen, was wir wollen. Vorerst können wir Pläne schmieden und verfolgen. Vorerst wurde kein Kommandosystem eingeführt und unsere individuelle Zukunft wird nicht von anderen geplant. Vorerst sind wir frei, obwohl wir in unseren kleinen Welten gefangen sind. Zumindest fühle ich das so, und wer mich kennt, der weiß, dass ich ziemlich sensibel auf Bevormundung reagiere.
Was ich mir aber schon wünsche, das ist, dass die Grenzen sich wieder öffnen werden nach dieser Phase. Dass die Internationalität nicht verloren geht. Dass die Erweiterung der jetzt ganz kleinen Welt der Wohnung und ihrer Umgebung nicht nur bis zur kleinen Welt von Österreich reicht. Die Autoschlangen z.B. am Walserberg sind für mich fast die beunruhigendste Meldung. Auf dass die Freiheit nicht an den Landesgrenzen ende.
Die Sonne bescheint uns. Die Post braucht länger als sonst, die dringend benötigten Spielgeräte treffen nicht ein, sind lost in space. Das Fernweh quält zwar nicht sehr, aber ein marokkanisches Couscous heute Abend kann trotzdem helfen. Ich sollte kochen gehen.
Gestern habe ich Mentrix entdeckt, das Musikprojekt der großartigen Samar Rad, iranische Sufi-Klänge mit Electronic, dazu wunderschöne Videos zwischen Feminismus und Spiritualität. Das klingt jetzt ein wenig banal, aber nein, das ist es nicht. Ein Ereignis!
 
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Vierundzwanzigster Tag

Dem Bildungsministerium scheint es derzeit am wichtigsten zu sein, das Maturaritual irgendwie zu retten. Um jene Schülerinnen und Schüler, die gerade den Kontakt zur Schule verlieren, scheint man sich weniger zu kümmern. Das sollen die herzlich wenigen Schulsozialarbeiter*innen tun, wenn der Bericht von der Pressekonferenz stimmt, den ich gehört habe. Dabei wäre es gerade jetzt eine Gelegenheit, ein wenig nachgehend zu arbeiten – Kontaktaufnahme per Telefon durch die Klassenvorstände, Bereitstellung von ausgedruckten Materialien zur Abholung, Beratung für Schülerinnen und Schüler anbieten, die sich schwer tun mit dem Distance Learning. Stelle ich mir halt so vor, und einiges davon empfiehlt auch die OECD:
„Perhaps the greatest risk in this crisis is that the social fabric created in and by schools will become fractured. Learning is not a transactional process, where students are passive consumers of content, where schools are service providers and where parents are clients. Learning always happens through interaction and in an environment of well-being and self-efficacy for both learners and teachers. The success of students over the coming weeks and months, particularly those from disadvantaged groups, critically hinges on maintaining a close relationship with their teachers. In this crisis, schools need to provide ways for teachers to remain socially close when they are physically distant. TALIS shows that this comes naturally to teachers: 9 out of 10 teachers said they joined the profession to make a difference to the lives of children, and three-quarters expressly referred to the opportunity to benefit the socially disadvantaged. The task for school systems is to support teachers in this mission.“
Christina und ich haben einen kleinen Leitfaden dafür zusammengestellt, einzusehen auf meiner Website www.pantucek.com
Maren Urner empfiehlt, auf Medien- und Informationshygiene zu achten. Das ist etwas anderes, als das sogenannte „Digital Detoxing“, von dem ich wenig halte – denn meines Erachtens kommt es nicht auf den Kanal an, sondern auf den Inhalt. Ich halte mich da eher an die Kollegin, die meint, man müsse dosieren, welche Informationen man in welchem Ausmaß überhaupt haben will. Allzuviel Junk vermüllt das Gehirn, und zu viele kleine G´schichterln oder Details lenken den Blick ab, man beschäftigt sich mit zu vielen Banalitäten. Es ist nicht leicht, hier bewusst auszuwählen, aber es lohnt sich.
Jeden Tag neue Meldungen darüber, wie böse Zoom ist oder doch nicht. Die Hektik bei der Wahl der Software beschäftigt das Team. Die angeblich so sicheren Alternativen funktionieren eher schlecht, wenn man sie ausprobiert. Eine zusätzliche Verunsicherung, die man jetzt eigentlich nicht brauchen kann.
Der längst bestellte Fußball ist endlich eingetroffen, heute wie jeden Abend blicke ich diesen Text schreibend auf ein schönes Abendrot, jetzt eher ein Abendorange. Die letzten Spaziergänger des Tages ziehen am anderen Ufer des Marchfeldkanals vorbei. Ein Kind singt beim Radfahren. Hinter mir leuchtet unser Haus.
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Fünfundzwanzigster Tag

Die Regierung von Panama hat strenge Geschlechtertrennung angeordnet. Jeden Tag wechselnd dürfen entweder nur Frauen oder nur Männer außer Haus gehen. Der Verkauf von Alkohol wurde auch verboten. Der Sinn dieser Maßnahmen bleibt im Dunkeln, es ist aber immerhin interessant, auf welche Ideen Regierungen so kommen können. Mein Mitgefühl gilt den Panamerinnen und Panamern – oder heißt das Panamesen? Oder Panamaer?

Das „wir“ ist ein superelastisches Wort, ein Zauberwort geradezu. Als Beispiel: Kardinal Schönborn meint, dass „wir“ die Globalisierung korrigieren müssen. Eine seltsame Verwendung des „wir“: sie schließt den Sprecher eigentlich aus. Kein Interviewer kommt nach diesem Satz auf die Idee, das Gegenüber zu fragen, was das für seine Organisation bedeuten würde, schließlich ist die katholische Kirche ja das Musterbeispiel einer global agierenden und noch dazu hochzentralistischen Organisation.

Das ist ein unsituiertes Sprechen. Als schwebte der Sprecher irgendwo, als Instanz, die zu richten habe über die Welt und die ihr gute Ratschläge geben könnte.

Was mir dabei abgeht ist eine Demut ob der Größe und Vielfalt der Welt, und das Wissen, dass es nicht nur an der Blödheit der Menschen (der/die Sprecher/Sprecherin jeweils ausgenommen), an der Skrupellosigkeit der Machthaber etc. liegt, wenn nicht alles hier, dort und in Übersee so ist, wie wir es uns in unseren humanistisch gesinnten Köpfen als SOLL-Zustand ausmalen.

Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Kardinal ist mir heute nur zufällig untergekommen. Diese Art des Sprechens findet man quer durch die Weltanschauungen und Blasen.

Our little World: der blühende Ahorn, die blühenden Wildkirschen, und Strukturen von Altholz und vertrocknendem Schilf. Der Autoverkehr war auch schon einmal schwächer. Und an den neuen Alltag habe ich mich schon so gewöhnt, dass ich nicht mehr sicher bin, ob ich mich darauf freue, in der Gegend herumzufahren mit Öffis oder Auto.

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