Der 2020 Krisenblog

Zweiter Tag

Wir sind zu Hause, und wir haben genügend Raum, um uns auch aus dem Weg gehen zu können. Noch ist alles gut.

 

Unsere Start-up Privatuni stellen wir auf voll digital vermittelte Kommunikation um, die Büros sind verwaist. Wir testen Tools. Manche funktionieren nur langsam, scheinen überlastet. Momentan die doppelte Arbeit: Umorganisieren, und trotzdem alles erledigen, was anfällt und auf termingerechte Erledigung wartet.

 

So wenig Autoverkehr gab´s nach meiner Erinnerung auf der Straße vor unserem Haus zuletzt so gegen Ende der 1960er-Jahre. Gespenstisch schön.

 

Täglich um Punkt neun Uhr gibt´s seit heute das Morgenmeeting. Das Team trifft sich nach dem Frühstück zur virtuellen Konferenz. Man macht, was man so macht als Team am Morgen: Man trinkt Kaffee, erzählt sich, wie es zu Hause so geht, scherzt, und spricht über die Arbeit, die heute zu erledigen ist. Hin und wieder tauchen im Hintergrund Familienmitglieder auf.

 

Ich ziehe mehrmals am Tag meine Spaziergeh-Kreise, um kein Gefühl des Eingesperrtseins aufkommen zu lassen. Auch die Autobusse ziehen ihre Kreise, vielleicht aus dem gleichen Grund, sie sind fast immer leer.

 

Freundinnen und Freunde berichten von Chefs, die seit Tagen auf Tauchstation sind, die noch schnell am letzten Donnerstag oder Freitag auf Urlaub gefahren sind, die weder etwas entscheiden noch mit den Mitarbeiter*innen reden.

 

Heute den Entschluss gefasst, vorerst täglich etwas zu schreiben.

Dritter Tag

Tun, was zu tun ist, denke ich mir. Keine Ahnung, wie lange das dauern wird, keine Ahnung, welche Verwerfungen das bringen wird. Ich glaube den Epidemiologen. Aber schon den Virologinnen und Virologen glaub ich nicht mehr, wenn sie Mutmaßungen über den Verlauf der Pandemie anstellen. Können sie rechnen? Was wissen sie über die bereitgehaltenen Ressourcen und über die sekundären Folgen?

 

Was wir können, ist unser Geschäft betreiben, wenn das denn noch möglich ist unter den Bedingungen der ubiquitären physischen Distanz. Was wir können, ist unsere sozialen Kompetenzen verwenden. Reden mit den Leuten, mehr als bisher. Einen neuen Alltag bauen, rasch. Im Betrieb, in der Familie.

 

Wir können uns freuen, dass das Internet funktioniert, und dass die Kommunikation funktioniert, dass wir einander sehen können. Vielleicht sogar mehr und öfter sehen können als im bisherigen Alltag.

 

Die Welt wird keine bessere werden. Sie wird eine andere werden, und wir können seriös noch keine Aussage darüber treffen, wie anders sie sein wird und wie sie anders sein wird.

 

Es wird kein einzelner Tag sein, an dem alles vorbei sein wird. Und dann wird die Aufarbeitung der Geschichte unsere geringste Sorge sein. Sie wird dauern, es wird kein Jüngstes Gericht geben.

 

Was ich hoffe, ist, dass wir uns freudig umarmen werden, wenn der Spuk vorbei ist. Und dass wir, bevor wir das wieder einmal können werden, einander auf andere Weise näherkommen.

 

Was ich erträume, ist, dass danach all diese Leute, die als Chefs, als Verwaltungsspitzen, sich verkrochen haben dieser Tage, die ihre Unfähigkeit bewiesen haben, das Nötige zu tun, dass die dann befreit werden von den Jobs, die sie überfordern.

 

Woran ich nicht glaube, ist, dass Träume wahr werden. Zumindest nicht die Wunschträume. In der Regel aber auch nicht die Albträume. Würde ich Trost brauchen, wäre das einer.

Vierter Tag

Es ist warm, es ist sonnig, der Frühling ist da. Ich mache meinen Mittagsspaziergang am Marchfeldkanal, so wie andere auch. Väter mit ihren Kindern, Mütter desgleichen, viele sind allein unterwegs auf dem Fahrrad, laufend, gehend. So gut wie alle achten sorgfältig darauf, großen Abstand einzuhalten. Es macht nicht den Eindruck, als wären diese Menschen leichtsinnig.

 

Immer wieder gehe ich durch Duftwolken, mit denen die blühenden Sträucher ihre Existenz anzeigen, Bienen sind unterwegs, eine erste Hummel habe ich auch schon gehört. Eine Joggerin läuft mit Respektabstand an mir vorbei und zieht Maiblümchenduft hinter sich her. Amseln, Meisen, Spatzen, Türkentauben, Elstern sehe ich, eine Frau Schwan, die ihr Nest baut. Den Gesang der Vögel hört man besser, da das Hintergrundgeräusch des Verkehrs leiser ist als auch schon.

 

Mich hat schon vor langer Zeit diese mögliche Gleichzeitigkeit des Schönen, Idyllischen, mit dem Schrecken beschäftigt. Tiere, Pflanzen, Wetter sind gleichgültig gegenüber menschlichem Elend, so lange sie können. Aber jetzt und hier ist noch kein Schrecken da.

 

Maurizio Ferraris, Philosoph an der Universität Turin, schreibt heute in der NZZ: „Wenn uns das Virus beschäftigt – was durchaus richtig ist –, dann deshalb, weil wir über ein fortschrittliches Gesundheitssystem verfügen. Dieses System kann in eine Krise geraten – noch vor fünfzig Jahren hätte sich das Problem gar nicht gestellt, und wir hätten die Pandemie wie ein Schicksal ertragen. Das Virus hätte ein brutales Blutbad angerichtet, wenn auch nicht ein solches wie vor hundert Jahren die Spanische Grippe, weil das Coronavirus trotz allem viel weniger aggressiv ist. Unsere Sorgen sind also – recht bedacht – ein unwiderlegbarer Beweis für die Tatsache, dass die Menschheit sich zum Guten entwickelt, dass die Wissenschaft laufend Fortschritte macht und dass die Medizin ein Wissen ist, dem wir huldigen sollten, statt dahinter das Komplott böser multinationaler Firmen zu vermuten.“

 

Wir leben als privilegierte Menschen an einem privilegierten Ort in einer privilegierten Zeit. Das bewahrt uns nicht vor jedem möglichen Tod, und es bewahrt uns nicht vor seltsamer Empörung, zum Beispiel jener über „Freiheitseinschränkungen“. Vielleicht bin ich naiv, wenn ich mich darüber freue, dass ein demokratischer Staat soeben seine Handlungsfähigkeit beweist.

 

Diese Naivität gönne ich mir. An einzelnen Personen in der Regierung oder an einzelnen Maßnahmen herumzumäkeln erspare ich mir. Ich will geistig gesund bleiben. Irgendwann brauche ich ja vielleicht noch meine Kraft für jene Zeiten, in denen sehr wohl die Freiheit verteidigt werden muss.

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Fünfter Tag

Freitag. Die erste Krisen-Arbeitswoche all jener Personen, die einen monday to friday / nine to five (oder so ähnlich) Job haben, ist zu Ende gegangen.
Mir fallen diese Mini-Ungleichzeitigkeiten auf, die so viel Aufregung verursacht haben. Wir haben alle einige Tage gebraucht, um zu begreifen, dass es ernst werden könnte und daher rigide Umstellungen erforderlich sind. Einige waren zwei bis drei Tage früher dran, einige später. Man hat jeweils jene, die schon ein bisserl früher begriffen haben, als Panikmacher*innen angesehen, und jene, die ein bisserl hinterherhinkten, als Ignorantinnen / Ignoranten.
Wir beobachten „in a nutshell“ etwas, was sich mit geringerem Tempo, aber von noch heftigerer moralischer Aufplusterung begleitet in unseren Gesellschaften ereignete: Jene, die selbst erst in den letzten Jahrzehnten gelernt hatten, dass es nicht ok ist, Frauen und Kinder zu prügeln, hielten diese Einsicht für eine tief in der christlichen Kultur verwurzelte Achtung vor den Menschenrechten, und verachteten jene, die aus (noch) patriarchal strukturierten Gesellschaften kamen, als nicht würdig, auch gleichberechtigt zu sein.
Man läuft Gefahr, ganz wucki zu werden vor lauter Nachrichten, Berichten, Belehrungen, Kurzmeldungen, Debatten. Mein Tipp: Einmal die üblichen Sender wegschalten, die (vlt. wohlgemeint) ein Übermaß an Blabla über uns ausschütten, auch wenn dieses durchaus manchmal Hand und Fuß haben mag. Statt dem Abendjournal, der x-ten Sondersendung und den vielen Interviews ganz einfach gute Musik laufen lassen. Ich empfehle Lounge FM als Soundtrack zu Hause. Schöne, entspannte Musik, deren Niveau nie unter das Level des Ertragbaren sinkt.
Bis morgen!
 
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Sechster Tag

Die Tulpen entsorgt. Ab sofort nur mehr Blümlein aus dem eigenen Garten auf dem Tisch.
Am härtesten trifft mich der Verlust der Kaffeehäuser, Espressi, Wirtshäuser. Im Alter von 14 Jahren habe ich begonnen, wesentliche Teile meiner Tage in solchen Etablissements zu verbringen. Sie waren stets meine eigentlichen Wohnzimmer in dieser Welt. Und nur dort konnte ich konzentriert kreativ arbeiten. Jetzt hätte ich einige Texte zu schreiben, und ich weiß nicht, wie ich das machen soll, wenn ich keine Gaststätten zur Verfügung habe. In der häuslichen Ruhe / Unruhe kann ich lektorieren, ausbessern, mich durch Bücher ackern, aber keine längere Abfolge von sinnvollen und zusammenhängenden Sätzen produzieren, meine Gedanken bleiben hier bieder, wie in einem Gefängnis. Ich werde Kaffeehaussimulationen, einen Café-Ersatz finden müssen. Aber was kann die anderen Menschen ersetzen?
Die Spaziergänge heute waren erfrischend aufgrund der gesunkenen Temperaturen, aber viel einsamer. Wie lange werden wir noch über diese Stille berichten? Wie lange werden noch Fotos von leeren Straßen und Plätzen gepostet werden? Werden wir dann, wenn alles wieder anläuft, den Lärm für unerträglich finden? Zumindest drei Tage lang?
Jetzt wünsch ich mir von den leeren Straßen noch die parkenden Autos weg. Sollen die die Leute auch in die Wohnung mitnehmen. Was könnte man dann für Stadtfotos machen …
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