Zettelkasten

Sisyphos und die Zielgerichtetheit

Peter Pantucek im August 2011.

 

An einem Strand auf Karpathos beobachte ich meinen dreijährigen Sohn Paul beim Graben eines Lochs im Sand. Die Brandung schüttet sein Loch immer wieder zu. Paul gräbt weiter, macht ein neues Loch, das wiederum zugeschwemmt wird – und so geht es immer weiter, bis ich mich abwende.

Paul ist konzentriert bei seiner Arbeit. Er ärgert sich nicht über das regelmäßig wiederkehrende Wasser. Man hat den Eindruck, dass er das Interesse an dieser Arbeit längst verloren hätte, wenn sie zu einem dauerhaften Erfolg geführt hätte. Er übt sie mit einer lockeren Konsequenz aus, ohne übermäßige Anspannung, aber gewissenhaft und zügig. Bis die nächste Welle kommt, ist wieder ein Loch da, das sie zuschütten kann.

Für Paul hat diese Arbeit einen Reiz, er tut sie gern. Der Reiz scheint zu einem guten Teil in der rhythmischen Struktur der Tätigkeit zu liegen. „There´s joy in repitition“.

Paul erreicht kein „Ziel“, sein Loch (ist es immer das gleiche oder ist jedes ein neues?) wird nie fertig, hat nie Bestand. Andererseits: Er sorgt dafür, dass das Wasser nie endgültig „siegt“. Gesiegt hätte es erst, wenn Paul zu graben aufhört, wenn zwischen zwei Brandungswellen kein Loch mehr entstehen würde.

In seiner Vergeblichkeit ist Pauls Arbeit mit der von Sisyphos vergleichbar. Ihm wurde diese Arbeit aber von keinem strafenden Gott aufgegeben, sondern er hat sie selbst gewählt.

Es drängen sich platte Vergleiche auf, z.B. mit manchem, was Sozialarbeit tut. Ich will aber den Fokus auf einen anderen Aspekt legen: Menschen sind Sinnproduzenten. Es gelingt ihnen, allem, was sie tun, einen Sinn zuzuschreiben, auch der scheinbaren Vergeblichkeit ihres Tuns. Ich habe Paul nicht danach gefragt, welchen Sinn er in seiner Tätigkeit sieht. Es war offensichtlich, dass sie für ihn „Sinn machte“.

Ich sehe einigen Sinn darin:

  • Die rhythmische Tätigkeit (wie viele andere rhythmische Tätigkeiten) schafft Befriedigung, eine ganz eigene Körper- und Wirksamkeitserfahrung. Paradoxerweise ermöglicht in diesem Fall die wiederkehrende Zerstörung des Produkts die Rhythmisierung.
  • Die rhythmische Abfolge von graben – zugeschwemmt werden – graben kann für einen Schwebezustand, eine „Trance“, genutzt werden.
  • Gleichzeitig ist es nicht gleichgültig, ob nie ein Loch war, wo jetzt nach der Welle keines mehr ist. Paul schafft mit dem Graben eine Möglichkeit für das Wasser, ein Loch zuzuschütten. Sein Produkt ist nicht nur das Loch, sondern auch das zugeschüttete Loch.
  • Da die Tätigkeit kein „Ziel“ hat, wird sie nie anzeigen, dass sie abgeschlossen ist. Sie wird dann abgeschlossen sein, wenn Paul entscheidet, dass er sich einer anderen Aufgabe zuwenden will. Auf den ersten Blick (aber nur auf den ersten) ist sein Tun wirkungslos. Aber gerade das Fehlen eines Ziels ermöglicht die größte Autonomie: Wenn es genug ist, ist es genug, und niemand anderer als Paul selbst entscheidet, wann es genug ist.

Die Rede über „Ziele“ ist in vielfacher Hinsicht problematisch. Ein Ziel zu haben, ist EINE Möglichkeit, sinnvoll zu handeln, aber eben nicht mehr. Als Menschen können wir scheinbar ziellos, aber trotzdem sinnvoll tätig sein. Die geläufige Unterstellung, rationales Agieren müsse immer ein ausweisbares Ziel haben, ignoriert viele Tätigkeiten, die sinnvoll sind, zum Leben gehören. Dass man diese, gefragt, nachträglich mit einem „Sinn“ belegen kann, wie ich das am Beispiel getan habe, heißt nicht, dass man sie mit diesem Ziel getan habe. Sie entfalten wohltuende Wirkungen, obwohl man vorher nicht hätte sagen können, man mache das, um diese Wirkung zu erreichen. Hätte ich Paul vor seinem Graben eine Begründung bzw. eine Zielformulierung abverlangt, wäre aus der Sache wohl nichts geworden.

Unnötig zu sagen, dass das auch für die KlientInnen Sozialer Arbeit gilt, und für die Soziale Arbeit selbst. So hilfreich manchmal die Formulierung von Zielen sein mag, ist sie doch nicht der einzige Weg, der gegangen werden kann, und oft auch nicht der beste.