Manuela Brandstetter: Lieber Peter

Lieber Peter!

Peter, nachdem Deine Replik sowie die Karfreitags-Postings zu/auf Roland Fürsts Standard-Artikel auf Deiner Site stehen, will ich Dir schreiben und eingedenk unserer doch langjährigen Beziehung Stellung beziehen.

Die Community (ich erlaub mir, die SchreiberInnen nun als lose gekoppelte aber sich mit einem Identity Peg verbundene Gruppe zu fassen) bezog sich beim Rückmelden und bei der zweifellos elementaren Frage der Abgrenzung von rassistischen Wahrnehmungsschemata und rechten Argumentationszügen u. a. auf „die Soziale Arbeit“ als analytisches Referenzsystem. Ziemlich rasch fanden sich die ersten Kommentare, die davon schrieben, wie es denn angehe, wenn SozialarbeiterInnen solche Artikel verfassen, so eine Nähe zu rechten Argumenten herstellen würden, diese vertreten etcetera. So als hätten SozialarbeiterInnen dafür zu sorgen, sich in einer von rechten Ansätzen reinen Umgebung aufzuhalten und als hätten sie mit Milieus unterschiedlichster Prägung nichts zu tun…

 

Das ist genau das eine Moment der Debatte, welches mir beim Durchscrollen ins Auge sprang und welches mir wesentlich erscheint. Diesen Punkt würde ich gerne aufgreifen und genau dort weiter diskutieren, weil alle anderen Verläufe m. E. eh klar sind. Dass und wie politische Korrektheit in der Theorie, im Posting, in der Inszenierung gelingen kann, ob sie glaubwürdig ist, „gelebt wird“ etc. wäre schon auch eine spannende Diskussion, diese wird aber eh von vielen anderen Communities in deren Foren geführt.

Die Frage, die m. E. also interessanter ist, ist, jene, welches Profil sich die Soziale Arbeit auch nach innen gibt. Wie positioniert sie sich denn methodisch – technisch in der m. E. doch sehr wichtigen Frage der entschiedenen Abgrenzung? Wie machen wir es, dass bzw. wenn wir uns in kontingenten Situationen sagen wir mal „gegen rechts“ positionieren? Wie schaffen wir unter „Handlungsdruck“ diese Leistung?? Peter, wir haben dazu eine Geschichte, und auf die will ich zurückgreifen und eben aus diesem Grund auch nur diesen Mini-Moment herauspicken …

Wichtig ist mir aber auch noch eingangs festzuhalten, dass ich mich weder in der Rolle der Advokatin von Roland Fürst (er kann für sich selbst sprechen und schreiben) sehe, noch dass ich damit eine Verteidigungsschrift seiner Auffassungen verfasse. Mit geht es hier um eine Positionsbestimmung, die m. E. an genau dieser Stelle für die Soziale Arbeit wichtig erscheint.  

Ich will Dir aber dazu aus unserer geteilten beruflichen Erfahrung etwas schreiben und mich dabei vorerst an die Jahre 1997-2006 erinnern, wo Du als Supervisor mich durch eine fast zehnjährige wirklich knüppelharte Lehre der Sozialarbeit im Gefängnis mehr oder minder durchgecoacht hast. Woran sich Auszubildende halt für gewöhnlich immer und gerne erinnern, sind irgendwelche O-Ton-Sager, die sich einbrennen und die womöglich in der Retrospektive auch eine Spur hysterisch-übertrieben aufscheinen. Also, als ich Dich im Rahmen einer Supervision irgendwann 1997 mal fragte, wie ich denn nun die doch zahlenmäßig nicht unrelevant vielen für mich unerträglichen Narrative – und das waren keine aus den Mündern der Insassen – ertragen lernen könne, in denen mir jeden Tag etwas vom „gesellschaftlichen Abschaum“ vorgebetet wurde, in denen man die Wiedereinführung der Todesstrafe verlangte oder sonstige zum Teil noch schlimmere Unfassbarkeiten mir zu Ohren getragen wurden, ungefragt .. Ich drohte daran zu verzweifeln und binnen der ersten drei Monate im Strafvollzug wieder das Handtuch zu werfen. Ich erinnere mich aber daran, dass genau Du es warst, der mir sagte, dass ich mit meinen zarten 21 Jahren diese paternalistischen Sprachbilder weder durch ein Bekehren noch durch ein Anzeigen in den Griff bekommen werde. Vielmehr rietst du mir zu subversivem Handeln, werkeltest mit mir in unzähligen SV Sitzungen zu passenden Sagern, zu Mut-Machern, aber auch zu der einen oder anderen nachhaltigen Strategie, die mich im Umgang mit so manchen mich in den Wahnsinn treibenden Sprachbildern wappneten und die auch wirklich saßen. Ein weiterer solcher O-Ton von Dir war: „Vergiss das Bekehren. Das bringt sozialarbeiterisch gar nix. Genauso wenig wie das Anzeigen. Du kannst kündigen, aber dann kommt die nächste, die das austrägt. Das einzige, das hilft, ist, wenn sie eines Tages so viel Respekt vor Dir bekommen, dass sie (Dir) sowas nimmer sagen; wenn/sobald Dein Sozialer Dienst in einem absehbaren Zeitraum als >unverzichtbarer Teil dieser Justizanstalt< wahrgenommen wird, der maßgeblich mitzureden hat, bei allen organisationsinternen und –externen Entscheidungen, insbesondere jenen, wo es um die Rechte der Insassen geht.“ Erinnerst Du Dich??

Zweites Szenario; ich schreibe nun über einen Zeitraum von 2006 – 2013. Ich war schon am Department Soziales an der FH St. Pölten unter Deiner Leitung. Ich war dort am Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung für die Durchführung von insgesamt acht Community Studies inhaltlich und organisatorisch verantwortlich, in denen es um „Jugendprobleme im ländlichen Raum“ ging. In Gemeinden (nicht in allen wohlgemerkt), in denen die Qualitätsstandards zu Jugendarbeit komplett unbekannt waren und wo die spaltende und Neid sowie Zwietracht säende Eigenschaft von Problemdiskursen erschütternd ignoriert wurde, gab es zwischen manchen  Orten oft lediglich eine erschreckend einende Parallele: stets waren es „die Anderen“, die „Kinder aus den Ausländerfamilien“ (das war vor der so genannten Flüchtlingskrise), „die Zugezogenen“, „die Kinder der AlleinerzieherInnen“, die „der Jenischen“, die die Probleme in den Landgemeinden verursachten. Wenn Du Dich erinnerst: Wir forschten und rangen bei diversen Präsentationen und Entwicklungen/Empfehlungen alsdann mit SchuldirektorInnen, LehrerInnen, KommunalpolitikerInnen und durchaus auch mit SozialarbeiterInnen, die „KlientInnen schon 4 km gegen den Wind zu riechen“ behaupteten, denen wir weder moralisierende Belehrung noch eine skandalisierende Arroganz wirklich nachhaltig hätten entgegensetzen können. Unsere – also auch die von Dir mit initiierte und getragene – Strategie, die, mit der Du mich und die MitstreiterInnen immer wieder beraten hast, war, wie in meinem Artikel anbei auch plastisch über diese Gemeindeforschungsprojekte zu Jugendproblemen zum Vorschein kommt, die Taktik der „kreaktiven Wege politischer Veränderung“. Als „sozial gestaltend“ wie dies auch Wolf Schröer, Otger Autrata und durchaus auch ein Christian Reutlinger als maßgebliches neues Paradigma in der Sozialen Arbeit (sagen wir seit 2000) einfordert, sollte dieses genuin sozialarbeiterische Handeln ausfallen, welches eben nicht in der Vorführung, in der reinen Skandalisierung und Anprangerung paternalistischer Gesinnungen (ein Unterfangen das sich aufgrund der Nachhaltigkeit dieser Wahrnehmungsschemata als aussichtslos erwiesen hätte) bestehen kann, sondern in einer forschungsbasierten Veränderung jener Kausalschleifen, die letztlich zur Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen führten. D. h.:  Forschung und Entwicklung muss so klug angelegt werden, dass frau/man den herrschenden Glaubenssätzen von den „schlechten Jugendlichen“ den Nährboden entzieht, wie uns auch souveräne und weitblickende BürgermeisterInnen, regional versierte SozialarbeiterInnen, geschickte SchuldirektorInnen und LehrerInnen und andere strategische Füchse vor Ort lehrten.

Was ich damit sagen will: Du selbst empfahlst damals nicht im Mindesten eine harte trennscharfe Abgrenzung zu einer rechten und maskulinitätsübersteigerten Kommunal- oder Personalpolitik sondern berietst Deine Auszubildenden stets – solang ich Dich kenne – eher kompromisslos in Richtung „Mischt Euch ein ins Tagesgeschäft! Verhandelt, setzt Euch mit Euren Widersachern proaktiv auseinander! Sozialarbeit, will sie ernst genommen werden, darf sich dafür nicht zu schade sein.“ Auch Stephan Wolff verweist in einem m. E. seiner großartigsten Beiträge über die Disziplinbildung in der Soziale Arbeit auf unser Fach als eines, das insbesondere an seinen Rändern (Systemgrenzen oder Feldabsteckungen, je nachdem welchen sozialtheoretischen Zugang man/frau nun wählt) die für sie stets charakteristischen „Trägheiten“ (Wolff 2014:3) offenbart. Wissend, dass zwar Disziplinen ihre Sinn-Grenzen brauchen, um so Relevanzen zu filtern und selektive Anschlussmöglichkeiten eröffnen zu können, hätte – so Wolff (ebd.) – insbesondere Soziale Arbeit unter dem klassischen Problem das alle angewandten Wissenschaften hätten, zu leiden. So könne sie ihr wissenschaftsinternes Renommee nur durch qualifizierte Praxisferne erreichen, ihre besondere Identität aber gerade in ihrer vermeintlichen Gegenstandsnähe garantiert sehen (Wolff 2014:4), für die Du auch Zeit Deines Wirkens standest (das ist im Übrigen auch jener Zug, der mir persönlich an Roland Fürsts Curriculum imponiert).   Er stellte fest, dass Soziale Arbeit etwas müde und faul und vor allem ambivalent reagieren muss, wenn es um die Reinheit von Lehre und Anwendung geht. Du wirst mir aber zustimmen müssen, dass de facto die Verschränkung von Disziplin, Ausbildung und Arbeitsfeld einen Balanceakt darstellt, der bis dato mit Gewissheit weder empirisch durch umfassende Forschungstätigkeiten unterstützt und vorangetrieben wird und wurde noch theoretisch durch umfassende Aktivitäten einer offensiven Theorien(weiter)entwicklung forciert wurde.

Zusammenfassend und kurz auf die Debatte rund um den Karfreitag zurückkommend: Als doch sehr fragmentierte und an den Rändern stark ausgefranste Disziplin kann es eingedenk dieser Debatte doch nur darum gehen, zum einen selbstverständlich die notwendige Distanznahme zu rassistischen Wahrnehmungsschemata zu erreichen und – zum anderen aber – eine ernsthafte Diskussion über sozialtheoretische Grundlagen und darauf beruhende Gestaltungspraxen, methodisch-technische Handlungspraxen von und für SozialarbeiterInnen zu führen. Ein kurzer Exkurs zu Paul Natorp, den Autrata bedient, wenn er davon spricht, dass Soziale Arbeit (endlich) ihren gesellschaftlichen Gestaltungsspielraum „ausspielen“ soll:

„Sie (die Sozialpädagogik) hat, als Theorie, die sozialen Bedingungen der Bildung und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens, und zwar unter der berechtigten Voraussetzung, dass die Gesellschaften veränderlich, dass sie der Entwicklung unterworfen sei, zu erforschen; als Mittel und Wege zu finden, um jene wie diese Bedingungen gemäß der Idee, welches das Ziel gedachter Entwicklung bezeichnet, herbeizuführen und zu gestalten“ Natorp 1908:62 zitiert nach Autrata/Scheu 2008:29.

Damit hat die Soziale Arbeit, wenn man nun Natorp als durchaus richtungsweisenden Klassiker anerkennt, die Aufgabe, an der Einflussnahme auf Gesellschaftsformen mitzuwirken. M. a. W.: Soziale Arbeit nimmt eine steuernde Funktion ein. Über das „Wie“? und das „Mithilfe welcher Strategien?“ wollen wir (mit immer wieder wechselnden KoalitionärInnen) uns ja schon seit Längerem vernünftig und nachvollziehbar auseinandersetzen. Leider hatten wir beide trotz lange geteilter Wege bis dato die notwendige theoretische Untermauerung bestimmter Manuale, methodischer Modelle und Handlungssystematisierungen nicht geschafft und sind nicht über unsere persönliche Kontroverse „Systemtheorie als brauchbares gedankliches Werkzeug fürs Entwickeln oder doch eher Ungleichheits- und Feldtheorie“ hinausgekommen. Schad drum.

Dennoch: Ich glaub in der Tat noch dran, dass hier Forschung und Theoriebildung einen Raum bieten, um über das rein moralisierende Beschuldigen hinaus zu kommen und um auf Grundlage von systematisch geprüfter Erfahrung auch zu methodisch ausbuchstabierten Erkenntnissen rund um Gestaltungspraxen zu kommen. Mir würde es taugen wegzukommen von dem Thema „wer ist rechts oder wer argumentiert bzw. ist links“ hin zu einem „verstehenden Argumentieren“, zu einer Nachfrage, zu einem durchaus auch sozialtheoretisch fundierten Kurs auch über das „Wie“  Wir hatten solche Debatten auch schon mal geführt – damals gemeinsam mit Meinrad – wo wir uns unterhielten rund um das „wie unterstützte ich in einer geschlossenen Community die vermeintlich benachteiligten oder sichtlich Armen?“ ohne sie dabei bzw. damit schon allein zu etikettieren. So eine Debatte würde ich mir auch in diesem Themenfeld wünschen; dort haben wir m. E. wenig/kein Hintergrundwissen. Was meinst?

Schöner Gruß und alles Liebe, man

Brandstetter, Manuela:  Sozialpädagogisches Gestalten in kleinräumigen Gemeinden – Wider einer Verräumlichung von Gemeinde- und/oder Jugendproblemen. In: Zeitschrift für Bildungsforschung November 2015, Volume 5, Issue 3.