Der 2020 Krisenblog

Achtzehnter Tag

Ich mache mir Sorgen um die Zeitungen. Sie werden immer dünner, und nicht nur, weil die Anzeigen ausbleiben. Auch der redaktionelle Teil schrumpft, und im verschrumpelten Rest geht es fast ausschließlich um die Krise. Ich bin ein notorischer Zeitungsleser. Das einzige Blatt, das mich nun schon seit 50 Jahren begleitet, ist die Neue Zürcher Zeitung. Als ich noch ein Gymnasiast war, hat der Ober meines Stammcafés (das Fichtl in Floridsdorf, inzwischen leider verblichen) sie gesammelt und mir am Wochenende übergeben. Zu Hause ackerte ich sie dann durch und lernte viel, sehr viel über die Welt. Analytische Berichte über die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in fernen Ländern waren nur dort zu finden — die österreichischen Blätter waren da zu vergessen.
Als Kind habe ich mit der Arbeiterzeitung das Lesen gelernt. Das Neue Österreich habe ich Sonntags aus den Hängetaschen gestohlen. Später kamen Die Presse und die Volksstimme als Lektüre dazu. Österreichische Zeitungen zu lesen wurde allerdings immer uninteressanter, in allen standen die gleichen von der APA bereitgestellten Einheitsartikel. Das größte Elend ist die Sportberichterstattung hierzulande. Sportredaktionen scheint es keine mehr zu geben, zu den Matches der Fußballliga gibt es immer nur eine Meinung — die der APA.
Trotzdem — wenn jetzt auch das an Schwindsucht leidet, dann ist wirklich Krise. Meine NZZ ist mager, in der von mir geschätzten Wiener Zeitung finden sich immer noch gute und interessante Beiträge, aber eben auch weniger als vorhin.
Ich wünsche mir, dass meine Zeitungen bald wieder dicker werden, ihre Berichte vielfältiger. Ich will die Krise nicht schon beim Frühstück spüren, wenn ich die Blätter zur Hand nehme und das Mitleid aufkommt. Zum English Breakfast Tea gehört als Beilage ein ordentlicher Packen Papier.
Ruth Wodak konstatiert anhand vereinzelter rot-weiß-roter Fähnchen an den Fenstern und dem „I Am from Austria“-Hype, der eh schon wieder vorbei ist, ein Aufkommen des „banalen Nationalismus“. Da bin ich mir nicht so sicher, und ich würde auch deutlicher zwischen Patriotismus und Nationalismus unterscheiden (dazu morgen mehr). Eher beunruhigend ist tatsächlich, dass die EU und die europäische oder gar die weltweite Solidarität jetzt gerade keine Hochkonjunktur haben. Der Blick verengt sich. Man sollte aber auch wissen, dass die Union in der Gesundheitspolitik keine Kompetenzen hat, ihre Unsichtbarkeit also wohlbegründet ist.
Die TAZ hat ein Vermummungsgebot vorgeschlagen, und das scheint auch sinnvoll zu sein, zumindest in geschlossenen Räumen, wie es die Regierung jetzt ja auch für die Supermärkte verordnet hat. Im Freien, vor allem in der freien Natur, sei es sinnlos, hat der Virologe Alexander Kekulé gesagt. Dafür bin ich ihm dankbar, bei meinen Wanderungen spüre ich gerne den Wind im Gesicht, den es hier in Floridsdorf ja fast immer gibt. Nur heute nicht.
Der Wiener Beschwerdechor hat schon 2017 einen Song „Haltet Abstand“ aufgenommen. Damals allerdings hatten sie einen anderen Anlass für diese Bitte, oder war´s eine Forderung? Hört selbst!
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Siebzehnter Tag

In diesen Tagen könnte es sein, dass Diskrepanzen zwischen den eigenen Vorstellungen von Selbstsorge und der Sorge der Familienmitglieder um mich auftreten. Das hat schon Loriot erkannt.
Der Herr Sohn hat in diesem Video zwar einige Muster unserer Kommunikation mit ihm wiedererkannt, meint aber, dass wir die Quarantäne bisher sehr gut hinbekommen. Er freut sich schon auf die Schule und verspricht, sich nach deren Wiedereröffnung ein bis zwei Wochen nicht über sie zu beschweren. Das ist ein ziemlich großes Versprechen. Er habe kurz darüber nachgedacht zu sagen, er werde das „nie wieder“ tun, das sei ihm dann aber doch zu unerreichbar vorgekommen.
Ich lese in der „Bühne“ über die neuen Inszenierungen an Wiens Theatern – und je weniger dies möglich ist umso mehr möchte ich fast alle sehen. Das Gefühl, etwas zu versäumen. Eigentlich ein ganz normales Gefühl in der Stadt. Was man versäumt, überwiegt das, was man nicht versäumt, bei weitem, auch und gerade in normalen Zeiten. Damit konnte ich mich bis heute nicht abfinden. Es gelingt mir nicht, mit dem Faktum der begrenzten Zeit und der Unmöglichkeit, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, Frieden zu schließen. Jetzt nimmt mir zwar diese Krise die Entscheidung ab, was ich mir (nicht) anschaue, aber befriedigend ist das auch nicht. Ich bin in der Großstadt, und bin in der Situation von Menschen in den Wäldern der peripheren Landschaften.
13.000 Schritte heute, und ich warte immer noch auf die Entschleunigung. Ich habe gelesen: „Bis vor Kurzem haben wir unter kollektiver Zeitnot gelitten, jeder war im Stress, hatte tausend Dinge zu erledigen und schob eine ganze Halde an Unerledigtem vor sich her.“ Ach, das ging nicht nur mir so? Die Formulierung mit der Halde gefällt mir besonders. Dass im nächsten Satz behauptet wird, nun habe sich alles umgekehrt und die Langeweile mache sich breit, zeigt aber: Jetzt scheine ich zur Minderheit zu gehören. Oder doch nicht?
Schönen Abend noch!
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Sechzehnter Tag

Gestern hielt mich eine wunderbare, wenn auch wenig spektakuläre Abendstimmung im Garten fest. Die Wienerwaldbergkette hob sich schwarz von einem schmalen Streifen rotgefärbten Himmels ab, der je weiter ich meinen Blick nach oben richtete, ein zuerst helles, dann zum Zenit zu immer dunkler werdendes Blaugrau annahm. Die teils noch kahlen, teils schon die ersten Blätterknospen tragenden Bäume zeichneten ein unregelmäßiges Gitter auf diesen Hintergrund. Hoch in der Krone eines Nachbarbaumes saß der Herr Fasan, die Welt um sich betrachtend. Ich harrte lange aus, er auch.
Schluss mit dieser grauenhaften Schwülstigkeit – obwohl: genau so war es.
Gestern hat sich Herr Orban vom Parlament auf unbestimmte Zeit nahezu diktatorische Vollmachten geben lassen. Er ist keineswegs der erste Freiheitskämpfer, der sich zum Autokraten und schließlich entwickelt hat – mit fleißiger Unterstützung seiner Partei. Orban hat als Liberaler begonnen, andere als Linke – man denke zum Beispiel an den Herrn Ortega in Nicaragua, die Herren Chavez und Maduro in Venezuela. Ihre Anhängerinnen und Anhänger sind ihnen gefolgt, denn es gibt ja immer die angebliche Bedrohung von außen und von den reaktionären Kräften, die das Volk wieder unterjochen wollen. Und man hat etwas davon, wenn man mitschwimmt, auch materiell. Nur die Präsidentenpartei kann den Ausnahmezustand beenden, sie entscheidet auch allein, wann und ob es jemals wieder Wahlen gibt, und „Querulanten“ haben Haft zu erwarten. Gegen den Bürgermeister von Mohacs wird wegen „Gefährdung der Öffentlichkeit“ ermittelt, weil er seine Stadt als „Corona-Hotspot“ bezeichnet hat.
Armes Ungarn. Auch die Europäische Union wird sie nicht befreien können, das werden sie schon selbst tun müssen. Wie heißt es in Brechts Einheitsfrontlied? Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum kann er sich nur selbst befrein. Yes.
Jetzt soll es randomisierte Testungen geben. Mein Soziologenherz pocht aufgeregt, denn die Aussagekraft der Infektionszahlen war bisher doch beschränkt. Endlich wird man zumindest ungefähr wissen, wie verbreitet das Virus wirklich ist. Das Ungefähre liegt dabei weniger bei der Statistik und der Stichprobengröße, sondern wohl mehr bei der Zuverlässigkeit der Tests, glaube ich.
Es dämmert. Es dämmert, dass die Zeit lang wird, dass es schwierig ist, die Freundinnen und Freunde so lange nicht sehen, so richtig sehen, zu können. Und es dämmert, dass die Folgen gravierend sein könnten.
Schokolade hilft. Wir haben extra eine Bonbonniere mit ganz ganz kleinen Bonbons angeschafft. Ein klitzekleines Stück Schokolade hilft auch schon.
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Fünfzehnter Tag

Jetzt, wo wir uns an die Ausnahmesituation gewöhnt haben und uns die ständigen Nachrichten über die Pandemie und ausschließlich über sie auf die Nerven zu gehen beginnen, sei eigentlich Zeit, sich um „abseitigere“ Themen zu kümmern, meint Eduard Kaeser, Physiker und Philosoph und Jazzmusiker.
Ich wollte seinem Rat folgen. Das heutige abseitige Thema wäre der Alltag gewesen. Menschen sind ja großartig darin, auch in ungewöhnlichen Situationen so rasch wie möglich wieder Alltag herzustellen. Darüber zu sinnieren, das wäre einerseits vielleicht interessant, jedenfalls aber auch beruhigend gewesen.
Das sei nun aufgeschoben, denn es passt nicht zu dieser Stimmung, die durch die heutige Pressekonferenz der Bundesregierung wieder eher ins Bewölkte gekippt ist, unpassend zu einem kühlen, aber sonnigen Tag.
Robert Castel hat schon 1991 etwas beschrieben, das wir alle mehr oder weniger gut kennen:
„Um es am Anfang sehr schematisch auszudrücken, ist die Innovation folgende. Die neuen Strategien lösen den Begriff eines Subjekts oder eines konkreten Individuums auf und installieren an ihrer Stelle eine Kombinatorik von Faktoren, den Risikofaktoren. Wenn es wirklich das ist, was stattfindet, dann bringt eine derartige Umgestaltung wichtige praktische Auswirkungen mit sich. Der wesentliche Bestandteil der Intervention nimmt nicht mehr die Form der direkten Beziehung von Angesicht zu Angesicht zwischen dem Fürsorger und dem Befürsorgten, dem Helfer und dem zu Helfenden und dem Experten und dem Patienten an. Statt dessen liegt er in der Bildung von Bevölkerungssegmenten, die auf dem Vergleich einer Reihe von abstrakten Faktoren basieren, die geeignet scheinen, das Risiko im allgemeinen hervorzubringen. Diese Verschiebung wirft das existierende Gleichgewicht zwischen den jeweiligen Standpunkten des spezialisierten Experten und des Verwaltungsbeamten völlig um, die mit der Bestimmung und der Anwendung der neuen Gesundheitspolitik beauftragt werden. Die Spezialisten sehen sich nun in eine untergeordnete Rolle verwiesen, während es der Verwaltungspolitik gestattet wird, sich zu einer vollkommen autonomen Kraft zu entwickeln, völlig jenseits der Kontrolle durch den Tätigen vor Ort, der nun auf einen bloß Ausführenden reduziert wird.“
An diesen Text (lohnende Lektüre, wer nachlesen will findet ihn hier: http://www.episteme.de/htmls/Castel.html) habe ich mich heute erinnert. Anschließend an die Verkündung der neuen Maßnahmen hatten meine Mitbewohner*innen fantasiert, dass die Zeit kommen könnte, wo sie mir zu Hause nur mehr mit Schutzmaske begegnen. Das alles zu meinem Schutz natürlich, weil ich mit meinen 66 Jahren der Risikogruppe zugeordnet werde. I´m not amused.
Auch die beiden Fotos sind heute eher irritierend. Der weiße Punkt am Himmel (in der Vorschau nicht sichtbar) ist die Venus. Sie begleitet uns ja schon lange an den Abenden, und wie man weiß, ist sie ein sehr unwirtlicher Planet. Ihre Anwesenehit zeigt, dass unsere Erde nicht allein ist im weiten Universum, sondern eingebunden in einen Familienverband, wenn man es so bezeichnen will. Als weiterer blühender blauer Planet wäre sie mir allerdings lieber. Aber meine Meinung zählt ja nix im Universum.
Das zweite Foto war ganz einfach da. Ich kann mich nicht erinnern, wie es zustandegekommen sein könnte. Bin das ich, in Quarantäne, nur mehr schemenhaft erkennbar für all jene „draußen“?
Das ist natürlich ein Blödsinn. Nichts hat sich geändert. Heute habe ich mir die Kommandobrücke des Raumschiffs Voyager (Start Trek) als virtuellen Hintergrund bei den Videokonferenzen gegönnt. Etwas fürs Selbstbewusstsein!
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Vierzehnter Tag

14 Tage sind vergangen, und die weltweite Woge baut sich auf, kommt näher. Noch verspüre ich keine Angst. Ich fühle mich wie ein hochinteressierter Beobachter. Wird sie noch kommen, die Angst?
Im vergangenen Herbst hatte ich begonnen, an einem Roman zu schreiben. Der Hintergrund: Wien ist in einer Ausnahmesituation, weil in einem Zeitraum von zwei Jahren alle „Bürger*innen mit Migrationshintergrund“ die Stadt verlassen haben – ohne einen besonderen Anlass. Das Konzept kann ich wegschmeißen. Aber einzelne Textstücke sind noch brauchbar:
„Wenn sich schon diese dunkle Wolke über die Stadt geschoben hatte, sie sich darunter für den Verfall zwar bereit machte, sich aber weigerte, diesen schnell zu erledigen, so musste man in seinem eigenen Leben alles tun, um nicht ebenfalls zu verdunkeln und zu verfallen.
Nun gab es einerseits diese klischeehafte Tradition der Stadtbewohner, den Untergang nicht ernst zu nehmen, sondern ihm das Heitere abzugewinnen und ihn als willkommenen Anlass für bedenkenlos hedonistische Inszenierungen zu nehmen.
Andererseits, nicht weniger klischeehaft, ist der Hedonismus nahe an der Melancholie gebaut. Er unterbricht die depressive Stimmung, heilt sie aber nicht. Er ist nicht mehr als ein kurzes Feuerwerk mitten in der Dunkelheit.
Was die Situation der Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner von früheren Katastrophensituationen unterschied, war die Ratlosigkeit. Ja, es war dunkel unter der Wolke. Ja, die wirtschaftlichen Turbulenzen wurden für so manche Existenz gefährlich. Dazu kam aber noch dieses Gift der Rat-, Ahnungs- und Orientierungslosigkeit, das sich verbreitet hatte. Allen war klar, dass man Entscheidungen treffen und etwas tun müsse, so schnell wie möglich, und doch wusste niemand, wie man entscheiden und was man tun könnte. Die Gewissheiten der jeweiligen Weltsichten schienen keine Richtung mehr vorzugeben. Einzig ganz rechts war alles klar, weiterhin. Was bisher schon auf Zerstörung aus war, konnte getrost dabei bleiben. Es war ja genügend übriggeblieben, was noch zerstört werden konnte.
Es mochte sich zwar alles dumpf anfühlen in dieser Stadt, aber noch war das eine zivilisierte Dumpfheit. Frustrierend, weil man sich nicht an einem Feind abarbeiten und man kein klares Ziel ausmachen konnte.“
Neu und schön ist die nunmehr breite Akzeptanz des Unvollkommenen: Wohnzimmerkonzerte, Videos ohne Ultra High Definition, improvisierte Lesungen, bei denen die Vorleser*innen mit dem Licht und der Technik kämpfen. Ich wünsche mir, dass das bleibt.
Die besondere Ästhetik des Shutdowns wird noch aufzuarbeiten sein. Die der leeren Straßen, der Homemade Videos und Podcasts, der Stille! Werden wir eine Erinnerung an diese Stille und das Improvisierte haben? Wie sehr werden sie uns abgehen, wenn sie wieder von uns gegangen sein werden?
Mir gehen die Fußballübertragungen weniger ab als gedacht. Heute stelle ich mir vor, dass ich die ersten Bundesligapartien feiern werde. Beim ersten Heimspiel Rapids nach dem Shutdown will ich unbedingt im Stadion sein, obwohl nach der langen Pause kein ansehnliches Match zu erwarten sein wird. Aber ich will mit den 20.000 die Wiederkehr feiern, das Leben, das Spiel.
Das Nest ist fertig gebaut. Eier legen, brüten. Das Paar hat eine Geduldprobe vor sich.
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