Texte

Individualisierung, Selektion und professionelle Sozialarbeit.

Referat auf der Fachkonferenz "New Professionalism in Social Work", Bielefeld, 28.-30.10.2004.

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


1.

2003 führten in einer europäischen Großstadt einige parallele Entwicklungen dazu, dass Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen waren, eine wesentliche Verschlechterung des Services hinnehmen mussten. Gingen sie aufs Sozialamt, bekamen sie nicht Geld, sondern nur einen Gesprächstermin. Die Wartezeit auf dieses erste Gespräch betrug mehrere Wochen, 2 Monate waren die Regel.

Was war geschehen?
1) Die neue Leitung des Sozialamts hatte einige einschneidende organisationsinterne Maßnahmen gesetzt, um die Qualität der Betreuung durch das Sozialamt zu verbessern. Statt Juristen saßen nun Sozialarbeiter in der Führungsetage.
2) Es wurde angeordnet, dass alle Antragsteller vor formaler Einreichung ihres Antrags auf Sozialhilfe ein Assessmentgespräch mit einem Sozialarbeiter zu führen hätten. In diesem Gespräch sollte nicht nur geklärt werden, ob der Hilfesuchende die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, sondern es sollte auch seine Lebenslage besprochen und ggf. ein Hilfeplan erstellt werden.
3) Gleichzeitig entwickelte sich der Arbeitsmarkt in der Stadt ungünstig und die Bezugsvoraussetzungen für Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung wurden verschärft. Das führte dazu, dass die Zahl der Antragsteller auf Sozialhilfe sprunghaft anstieg.

Die paradoxe Folge der Bestrebungen zur Verbesserung des Services war: Das Service verschlechterte sich massiv. Oder deutlicher: Menschen, die Anspruch auf Sozialhilfe hatten, kamen nicht zu ihrem Geld, oder erst nach absurden Verzögerungen zu ihrem Geld. Nicht-Regierungsorganisationen kritisierten, und das ist nachvollziehbar, dass mit diesen Wartezeiten sowohl Buchstaben wie auch Geist des Sozialhilfegesetzes mit Füßen getreten wurden.

Es ist wohl überflüssig, extra zu erwähnen, dass die mediale Aufmerksamkeit für die Krise des Sozialhilfevollzugs gering war. Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass die Stadtverwaltung sich in ihrer Eigenpropaganda als Hort sozialer Verantwortung stilisiert.

Ich erzähle Ihnen diese Geschichte, weil sie einen Widerspruch sichtbar macht, mit dem soziale Arbeit in Zeiten neuer Formen von Ungleichheit zu leben hat. Gegen die Maßnahmen der Sozialamtsleitung wäre sozialarbeiterisch-methodisch vorerst wenig zu sagen. Sie entsprechen einem Verständnis von individualisierter und individualisierender Sozialer Arbeit, einem Verständnis von Sozialer Arbeit als umfassender Hilfe, die Potenziale der Selbsthilfe aktiviert.

Diese Sozialarbeit ist zentriert auf die Individuen, erhebt deren Lebenslage, kann das nur tun, indem sie entsprechend Zeit investiert. Zeit in den Aufbau einer Beziehung; Zeit zur Erhebung umfassender Daten im Gespräch; Zeit zur Diskussion von Problemsichten und Lebensperspektiven mit den KlientInnen; Zeit, um an die bereits vorliegenden Vorüberlegungen, Selbstbilder, Eigendiagnosen der KlientInnen anzuknüpfen und um eine respektvolle Auseinandersetzung mit Hoffnungen und Ängsten der KlientInnen führen zu können.

Halten wir fest, dass es um Individualisieren als Technik geht, und um die Inszenierung von Respekt und Aufmerksamkeit. Also um zentrale Techniken der Sozialarbeit in der Arbeit mit ihren KlientInnen.

Diese spezialisierte professionelle Aufmerksamkeit gilt tendenziell dem ganzen Leben. Silvia Staub Bernasconi nennt das „die Besorgung der ganzen Person“. In unserem Beispiel wurde dafür gerade mal eine sehr knappe Stunde bereitgestellt, und eine umfangreiche amtliche Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für den Sozialhilfebezug war da schon inkludiert.

Selbst diese eng limitierte Aufmerksamkeit kann aber – vor allem in Zeiten krisenhafter Entwicklung – nicht allen zuteil werden, es sei denn, man erhöht die Zahl an SozialarbeiterInnen-Posten je nach Arbeitsanfall massiv, um sie ggf. auch wieder auf einen niedrigeren Stand zurückzuführen. Es ist wohl einsichtig, dass das nur sehr eingeschränkt möglich ist. Der Umbau des Sozialamts zu einer „atmenden Organisation“ scheitert nicht nur am Dienstrecht, sondern auch an der Monströsität des angepeilten Programms. Die Lungenkapazität der Organisation müsste schon sehr groß sein.

Die Aufmerksamkeit für das ganze Leben, für den Klienten als Menschen, ist aber auch eine Grenzüberschreitung und kann von Respektlosigkeit zeigen, von Missachtung der Integrität und Autonomie der Person.

Daran ist vor langer Zeit einmal ein sogenannter sozialpädagogischer Würstelstand in Wien gescheitert. Wer sich dort Würstel mit Senf bestellte, dem wurde tief in die Augen geblickt und er wurde mit Hilfe nondirektiver Gesprächsführung über seinen Seelenzustand ausgehorcht. Nicht nur ich wich dieser Zumutung aus. Das Experiment wurde bald beendet.

Wer Sozialhilfe beantragen will, ist vorerst in einer akuten finanziellen Notlage und will einen Rechtsanspruch realisieren. Er will ein Instrument rascher finanzieller Hilfe in Anspruch nehmen.

Ihnen in dieser Situation wochenlange Wartezeiten und schließlich ein umfängliches Beratungsgespräch aufzunötigen kann nicht anders als respektlos bezeichnet werden, und das Reformprogramm erweist sich so als Variante einer Pseudoprofessionalisierung.

Unter Pseudoprofessionalisierung verstehe ich jene Einführung von standardisierten Vorgangsweisen der Abwehr, die in der Praxis zu einer Abkehr von den KlientInnen führen, die anstelle einer Beschäftigung mit der Komplexität, den Unklarheiten, Mehrdimensionalitäten und Ambivalenzen des Falles die Erschwerung des Zugangs zu Hilfe setzen. Ich verstehe darunter jene Arbeitsroutinen, die ein mechanistisches Verständnis der Sozialen Arbeit verraten. Ich verstehe darunter die systematische Verleugnung dessen, was die Profession als High-Tech-Instrumentarium der Annäherung an KlientInnen und deren individuelle Problemlagen in ihrer Geschichte entwickelt hat.

2.

Mein Thema ist, wie Programme der Bearbeitung sogenannter Sozialer Probleme unter den Bedingungen von Individualisierung, von Strukturwandel und der Diversifizierung von Lebenslagen Selektion betreiben und Abhängigkeitsverhältnisse herstellen. Wie ihre Inszenierungen ungeniert demütigende Formen annehmen.

Die eine Ausgangsbedingung dafür ist die hinreichend beschriebene Umgestaltung unserer Gesellschaften, die Individualisierung als Prozess, der den Individuen die Planung ihres eigenen Lebens unter immer unübersichtlicheren und ungewisseren Bedingungen abverlangt.

Die andere Ausgangsbedingung setzen die politisch beschlossenen Programme der Bearbeitung von im politischen Diskurs zurechtdefinierten sogenannten sozialen Problemen. Die Zugangskriterien für die Leistungen dieser Programme werden immer unübersichtlicher, für die Betroffenen undurchschaubarer.

Die Spezialisierung ist nicht nur ein Problem des Gesundheitswesens, sondern auch eines des Sozialwesens. Soziale Probleme werden in einem seinem Wesen nach politischen Diskurs zum Thema, erhalten in diesem Diskurs ihre dann gültige, meist rechtsförmige Formulierung und werden mit Bearbeitungsprogrammen beantwortet. Diese Bearbeitungsprogramme können repressiv sein oder sich als Hilfe gerieren. Meistens ist es eine Mischung von beidem.

Welche vorerst bloß individuellen Probleme diese Karriere zum Sozialen Problem erfolgreich durchlaufen können, hängt von der Durchschlagskraft der unmittelbar oder mittelbar betroffenen Personengruppen ab, aber auch von der erfolgreichen Lobbyarbeit jener, die sich durch die Installierung eines Bearbeitungsprogramms eine Aufwertung oder Gewinn versprechen.

Meine These: Ein Bearbeitungsprogramm, das rundum funktioniert, braucht keine professionelle Sozialarbeit. Nehmen Sie als Beispiel das Pensionssystem zu Zeiten, als es noch anstandslos finanziert werden konnte. Die Kriterien waren eindeutig, jeder Gewerkschafter konnte mir ausrechnen, wie viel Pension ich wann zu erwarten hätte. Was es brauchte, waren Bürokraten für die Administration von ziemlich eindeutigen Regeln. Weit und breit keine professionelle Sozialarbeit in Sicht.

Professionelle Sozialarbeit wurde und wird dort gebraucht, wo die Individuen und ihre Bedürfnisse nicht in die wohlformulierten Programme passen. Denn die Programme konzentrieren sich immer auf Merkmale, auf genau beschriebene Voraussetzungen, sie sind an politisch formulierten Problemen orientiert und nicht an Problemen der Lebensführung. Sozialpolitische Programme (oder, um bei meiner Diktion zu bleiben: Bearbeitungsprogramme von sogenannten Sozialen Problemen) lösen Probleme der Politik. Dass sie auch geeignet sind, die Probleme mancher Menschen zu lösen, ist zwar nicht unerwünscht, aber doch ein Nebeneffekt.

Professionalisierte Sozialarbeit hat eine Fülle von Techniken der Bearbeitung jener individuellen Problemlagen entwickelt, die sich eben nicht durch standardisierte Bearbeitungsprogramme lösen lassen. Sie kann dadurch erfolgreich an den Rändern der Programme arbeiten, dort, wo die Standardisierung nicht greift und das Eintauchen in die Unbestimmtheit und Komplexität individueller Lebenslagen erforderlich ist, wenn denn irgendetwas weitergehen soll. Sie ist ein Reparaturbetrieb für die Unzulänglichkeiten sozialstaatlicher Problembearbeitung.

Die spezialisierten Programme, die spezialisierten Einrichtungen bemerken heute, dass sie unter den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels an Grenzen stoßen.

Ich will diesen Wandel kurz charakterisieren: Er besteht
1) in einer Verschärfung sozialer Ungleichheit, im weiteren Auseinanderklaffen der Schere zwischen reich und arm
2) im Entstehen einer neuen Trennlinie: zusätzlich zur altbekannten zwischen gesellschaftlichem OBEN und UNTEN tut sich eine Trennlinie zwischen DRINNEN und DRAUSSEN auf, also eine horizontale. Sie wird durch das Begriffspaar Exklusion / Inklusion beschrieben.
3) darin, dass die Fälle unübersichtlicher werden, ein Fall unter den Bedingungen der Spezialisierung ein Fall für viele Programme ist
4) dadurch, dass die Individualisierung – die von den Individuen verlangte Selbststeuerung – ihrerseits vom Staat und von den Organisationen neue Formen der Steuerung verlangt.

Man könnte sagen, wenn man nur genauer hinschaut, dann sind immer weniger Fälle mit den Standardroutinen der Bearbeitungsprogramme lösbar.

Um es mit Fritz Bude aus der Sicht der Betroffenen zu sagen: „Die Erfahrung des Kontingentwerdens der eigenen Biografie hängt heute mit einer gefühlten institutionellen Paradoxie in den Sozialsystemen zusammen: Der Wohlfahrtsstaat, der soziale Sicherheit für alle verspricht, ist für viele zu einer Quelle sozialer Unsicherheit geworden. Es handelt sich um einen nervösmachenden Widerspruch zwischen Erwartungen und Erfahrungen. Was man mit dem Wohlfahrtsstaat erlebt, sagt einem, daß man sich da auf nichts verlassen kann. Anscheinend machen die dynamische Inkonsistenz seiner Maßnahmen und die apriorische Selektivität seiner Vergünstigungen vor niemandem halt.“

Oder andersrum, und hier geht es um die „Überflüssigen“ aus der Sicht des Staates:

„Wo … (die Überflüssigkeit von Menschen) auftritt im öffentlichen Bewußtsein, wird sie mit einem Label versehen, je nach dem, welches sozialpolitische Programm für zuständig erklärt wird. Auf diese Weise wird eine Integration vorgegeben, von der wir nichts weiter wissen, als dass die Unterstützten über mehr oder weniger staatliche Transfermittel verfügen sollen. Das unmittelbare Problem scheint behoben, wenn die Programmkriterien nicht mehr erfüllt werden.“

Die Programme, der Staat, die Organisationen des Sozialwesens versuchen auf jene Mängel systematisch zu reagieren:

1) durch Versuche der Steuerung von Klientenströmen und durch Selektion
2) durch eine disziplinierende Pädagogisierung
3) durch Standardisierung des bisher Nicht-Standardisierten

Diese 3 Reaktionsformen sind eng miteinander verknüpft. Sehen wir sie uns genauer an:

ad 1, Steuerung von Klientenströmen

Die fallbezogene Einzelentscheidung ist jetzt noch eine in Abwägung des vorliegenden Falles vom Experten, zum Beispiel dem Sozialarbeiter im Jugendamt, zu treffende. Die Budgetzahlen geben aber vor, wie oft man sich eine Fremdunterbringungsentscheidung im Jahr erlauben kann.

Das ist aber nur eine Zwischenstufe. Robert Castel hat den Versuch der Sozial- und Gesundheitsbürokratie beschrieben, durch eine sogenannte Verwissenschaftlichung von der immer wieder schlecht planbaren Entscheidung des Experten im Einzelfall unabhängig zu werden. Personen mit bestimmten Merkmalsgruppen werden Laufbahnen zugeteilt. Die Entscheidung wird objektiviert, auf Basis von Statistiken getroffen. Die Experten erheben höchstens noch die Daten, sind in deren Würdigung aber nicht mehr frei. Castel beschreibt diese Entwicklung als Entmachtung der Experten durch die Verwaltung.

Die Organisationen der Sozialen Arbeit werden zusehends in die Pflicht genommen, selbst Selektion vorzunehmen und selbst in Merkmalsgruppen zu denken und zu planen. Der ungebrochen anhaltende Sozialmanagement-Boom arbeitet sich daran ab.

ad 2, die Pädagogisierung

Kostenintensive Maßnahmen sollen so schnell wie möglich wieder beendet werden können. Überhaupt ist das ein Traum der neuen Manager staatlicher Versorgungspflichten: Wenn schon wegen des Auseinanderdriftens von Arm und Reich nicht die Zahl der zu versorgenden Menschen reduziert werden kann, sollen die wenigstens schnellstens wieder aus dem System der Versorgung rauskomplimentiert werden können. Da beginnen die Verwaltungen alte Schlagwörter der Sozialarbeit zu lieben: „Hilfe zur Selbsthilfe“, „Empowerment“. Die Selbstermächtigung der KlientInnen wird den Programmen als Ziel eingeschrieben. Hilfeprogramme mutieren zu Lernprogrammen, zu Programmen der Bewährung. Wohnungslose müssen z.B. Wohnfähigkeit lernen und sich vom Asyl in die Betreute Wohnung hochdienen.

ad 3, die Standardisierung des Nicht-Standardisierten

Die Steuerbarkeit der Prozesse soll umfassend erhöht werden, damit gerät die bisher ergebnisoffene Fallbearbeitung unter Druck. Was von der Sozialarbeit als Technologie des Umgangs mit komplexen Situationen unter den Bedingungen des Dialogs mit den KlientInnen entwickelt wurde, wird als unwissenschaftlich denunziert, über Zeitvorgaben, Prozessbeschreibungen normiert und an einem importierten Qualitätsverständnis ausgerichtet, das auf präzise beschreibbare immergleiche Prozesse und vorweg definierte überprüfbare Zielsetzungen abhebt.

Paradoxerweise werden diese Prozesse der stärkeren Indienstnahme der Sozialarbeit von vielen SozialarbeiterInnen sogar als Professionalisierung eingeschätzt und begrüßt. Meine Vermutung: Sie werden dadurch von der Zumutung befreit, sich selbstverantwortlich im unsicheren Raum des Dialogs mit den KlientInnen bewegen zu müssen. Ihre Verantwortung schwindet, ihre Entscheidungen sind strikter reguliert und formalisiert. Die Last der Verantwortung im Einzelfall schwindet. Sie fühlen sich jetzt sicherer, sagen sie mir.

Kommen wir zum Schluss:

Der Wandel in unseren Gesellschaften, die alten und die neuen Ungleichheiten werden von den Staatsapparaten und deren Kontrahenten mit neuen Formen der Steuerung, Selektion, Bürokratie und Kontrolle beantwortet. Diese Antworten gehen auch mit Versuchen einher, die professionelle Sozialarbeit einer Normierung zu unterwerfen und fallbezogene Entscheidungsfreiheit einzuschränken. Mechanistische Formen der Planung haben Konjunktur. Aber sie scheitern auch.

Professionelle Sozialarbeit wird sich weiterhin an der Unangemessenheit der Bearbeitungsprogramme in der Komplexität vieler Einzelfälle abarbeiten, denn das ist ihre Kernkompetenz.