Texte

Sie haben ein Problem. Soziale Arbeit als Form des Regierens.

Eine Debatte mit Ljubomir Bratic, erschienen in FACTS Band 2: Der gläserne Mensch – Europäisierung, Böhlau Verlag Wien. S. 35-50.

 

Lj.B.:

Wenn wir "Gesellschaft" als eine "umfassende Lebensart" einer Gruppe in einem temporär strukturierten Raum, vor allem charakterisiert durch Beziehungen, auffassen und wenn wir diese Beziehungen als antagonistisch betrachten, eröffnet uns das die Möglichkeit, den in den letzten Jahrzehnten anwachsenden Kontrollwahn nachzuvollziehen und zu analysieren.

Hinter den Kontrollen versteckt sich die Potenzialität zur Umformung von Gesellschaft und Leben. Es geht nicht mehr nur um Konstruktion und Wandel der bestehenden Gesellschaft. Es geht vielmehr um das, was Paul Rabinow (2004, 139) "Biosozialität" nennt. Es findet ein neuartiger Wechsel von Lebensbeziehungen statt. Wir werden Zeugen davon, wie die Natur nicht nur erkannt, sondern auch hergestellt wird. Natur selbst wird artifiziell (vergleichbar der Kultur) und veränderbar. Die Gentechnologie ist die bekannteste und meistdikutierte Variante der Schaffung von Natur.

Ein zentraler Punkt bei diesen Bemühungen ist, dass durch Überwachungs- und Kontrolltechniken das "Soziale" abgelöst wird. Den Arbeiten von Robert Castel kommt bei der Entdeckung dieses Sachverhalts eine wichtige Bedeutung zu. Castel analysierte schon in der frühen 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die "postdisziplinäre Gesellschaft". Diese
ist (interessanterweise inmitten eines Psycho- und Therapie - Booms) charakterisiert erstens durch eine Minimierung der unmittelbaren therapeutischen Eingriffe, durch zunehmende Bedeutung der präventiven behördlichen Verwaltung von Risikogruppen; zweitens durch die Förderung der Arbeit der Individuen an sich selbst, ihrer Selbstformung zu einem effizienten und anpassungsfähigen Subjekt. Letzteres war und bleibt eine der wesentlichen Rechtfertigungen der Tätigkeit der SozialarbeiterInnen ("Hilfe zur Selbsthilfe").

Diese Entwicklungen führen weg von einem sozialen Kontextualismus (Lebensweltorientierte Sozialarbeit). Sie ermöglichen einen instrumentellen Zugriff auf das Individuum. Das Individuum wird dabei als die Summe diverser Faktoren aufgefasst. Diese Faktoren werden vereinfachend gesagt von den SozialarbeiterInnen in die Datenbanken eingegeben und dann von ExpertInnen mittels Analyse zugänglich gemacht. Das Hauptbetätigungsfeld dieser SpezialistInnen ist der Bereich der Prävention. Und sie verstehen Prävention als ein Aufspüren von möglichen Risikokombinationen. Nicht mehr Individuen oder Gruppen (letztlich also Personen oder Gesellungen von Personen) werden als Risiken in einer postdisziplinären Gesellschaft identifiziert, sondern die Risiken bilden eine abstraktes Gefüge von Faktoren, die eine Gefahr wahrscheinlich machen (Ewald 1993, 210).

Mittels neuer Überwachungstechnologien wie z.B. der Rasterfahndung werden zunächst einmal nicht konkrete Individuen gefährdet, sondern es wird eine bestimmte Kombination von Faktoren in den Blick genommen, die mit Anomalien und abweichendem Verhalten einhergehen. Zunächst ist die Kombination von Merkmalen „gefährdet“ oder „verdächtig“. Die Person ist nur mehr der Ort, wo die Merkmale sich kombinieren. Das Ziel ist, das abweichende Verhalten zu minimieren, während Verhalten, das Gesundheit, Sicherheit und Normalität fördert, zu maximieren ist.

Auch die alte "face-to-face" Sozialarbeit diente der Überwachung von Personen und Gruppen. Ihre Hauptcharakteristik war die Anwendung von personenbezogenen Disziplinierungstechniken und Therapiemethoden. Sie verliert jedoch an Bedeutung zugunsten der Analyse von Datenbanken, wo Individuen und Gruppen jeweils dekonstruiert und rekonstruiert werden. Mittels des Computers können Individuen, die einzelne oder mehrere Merkmale teilen, gruppiert werden, und zwar in einer Weise, die sie völlig aus ihren sozialen Umwelten dekontextualisiert (Rabinow 2004, 141). „Risikogruppen“ sind im sozialen Sinne keine Gruppen. Castel nennt diesen Prozess, dessen Objekt nicht mehr eine Person, sondern eine Risikogruppe darstellt, "technokratische Administration von Differenz". Das heißt natürlich nicht, dass die herkömmlichen Formen kultureller Klassifikation biologischer Identität wie Rasse, Geschlecht (gender) und Alter (damit auch einhergehende Techniken der Disziplinierung, Normierung und Medikalisierung) verschwinden. Sie verändern ihre Bedeutung, erscheinen in einem anderen Zusammenhang. Und es scheint so zu sein, dass die postdisziplinären Praktiken neben den disziplinären Technologien ihren Platz gefunden haben. Und folglich transformiert sich die Sozialarbeit, Sozialmanagement wird ihr integrierter Bestandteil.

Neue Entwicklungen innerhalb der Regierungspraktiken haben völlig neue Möglichkeiten der Kontrolle, als herkömmliche Sozialarbeit leisten konnte, eröffnet. Die neue Kontrolle „zerstückelt“ die Individuen in eine Vielheit von Bestandteilen, zumindest auf der Ebene der Daten. Die Techniken der Regulierung nehmen Bezug auf diese durch Selektionstechniken und Strukturierungsmerkmale entstandenen Datengruppen.

Die beschriebene Entwicklung ereignet sich in einem Umfeld, das die Zusammenarbeit von Sozialarbeit und freier Marktwirtschaft als das wichtigste Mittel betrachtet, sowohl Sozialarbeit als auch das menschliche Wohlbefinden zu fördern. Ihr Ergebnis ist, dass neue Klientengruppen identifiziert werden und diese rasch vom Marktgeschehen absorbiert und als Ware gehandelt werden. Diejenigen, die keine "Kunden" sein können, werden Objekte, deren Ruhigstellung dem Bestbieter erteilt wird. So lässt sich z.B. die Konkurenz zwischen dem Konsortium bestehend aus Caritas, Diakonie und Volkshilfe einerseits und der Firma European Homecare andererseits um die Rückführung von Flüchtlingen aus Österreich im Jahr 2003 verstehen.

Die Partnerschaft von Markt und Sozialarbeit wird als Weg in die Zukunft gedeutet. Die Möglichkeit, Menschen mittels Datenbanken unabhängig von ihrer physischen Anwesenheit zu steuern, eröffnet diesen Weg.

P.P.:

Verehrter Philosoph! Wie reagiere ich auf diesen Rundumschlag? Muss ich die Sozialarbeit und ihre hehren Ziele verteidigen? Ich verzichte darauf. Schließlich finde ich auch genügend Beispiele, die die Thesen von Castel illustrieren. Allein: Es fällt mir nicht leicht, daran das Neue zu erkennen.

Hilfe ist immer schon interaktiv, damit auch steuernd. Sie ist Kommunikation, schließt damit als Realisierung einer Möglichkeit zahlreiche andere Möglichkeiten aus – auch und vor allem für den Empfänger. Hilfe ist Eingriff. Das heißt nicht, dass sie nicht ist, dass die Rede von Hilfe grundsätzlich verlogen ist. Das gilt für die Hilfebeziehung zwischen zwei freien Individuen (auf der zwischenmenschlichen Ebene), das gilt aber besonders für organisierte Hilfe. Ohne Versuch des Eingriffs in ansonsten von ihr unabhängig laufende Prozesse wäre Hilfe nicht existent, hätte keinerlei Relevanz.

Was sich zu verändern scheint, sind die Formen der Einflussnahme. Die Verschränkung von „Hilfe“ mit anderen Zielen gesellschaftlicher Steuerung ist einem Formwandel unterworfen. Machen wir es plakativ: Seltsame Personen in psychiatrische Kliniken zu sperren, elternlose Kinder in Waisenhäuser, arme in Armenhäuser, unerwünschte in Lager – das waren Strategien des Ausschlusses aus dem normalen Prozess der Gesellschaft, trefflich beschrieben in Goffmans Klassiker der Analyse der totalen Institution „Asyle“. Dieser Ausschluss war gleichzeitig ein Einschluss in ein enges und dicht gesteuertes System. Das System des Wegschlusses von Personen ist Hilfe, ist Repression, ist Strafe. Die weggesperrten Personen müssen versorgt werden, sie werden zwangsweise einer dichten Fürsorge des Staates unterstellt.

Diese „Lösung“ des Wegsperrens kommt von zwei Seiten unter Druck: Von der Seite der Menschenrechte und von Seiten ökonomischer Überlegungen. Die wirtschaftlichen Argumente sind dabei wahrscheinlich wirkmächtiger. Menschen in totale Institutionen zu sperren bedeutet immer auch, sie rund um die Uhr bewachen und versorgen zu müssen. Bewachung ist personalintensiv und daher teuer, aber auch Versorgung wird teuer. Sie umfasst nicht nur Lebensmittel, sondern auch medizinische Betreuung. Arbeitspflichten der Insassen können das nicht finanzieren.

Derzeit können wir in Österreich beobachten, wie versucht wird, die Versorgungsverpflichtungen des Staates zu verringern. Auf Landesebene bemühen sich die Jugendwohlfahrtsbehörden, die teuren Fremdunterbringungen von Kindern über eine Beschränkung der Budgets zu reduzieren. Von einer besonderen Lust des Jugendamtes, den Eltern ihre Kinder wegzunehmen, kann kaum mehr die Rede sein. Auf Bundesebene machten Versuche des Innenministeriums, die Bundesbetreuung von AsylwerberInnen zu reduzieren, einige Schlagzeilen. Die langjährigen Bemühungen zur Psychiatriereform, also zu einer Reduzierung des Anteils an stationär untergebrachten PatientInnen, gehen in eine ähnliche Richtung.

Alle diese Versuche haben ein Janusgesicht. Sie verringern die direkte Repression des Staates, produzieren aber zumindest bei einem Teil der so „frei“ gewordenen Menschen Hilflosigkeit und noch größeres Elend.

Was Du in Deinem Statement als generelle Tendenz beschreibst, die Perfektionierung der Steuerung, ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist das gezielte Wegschauen des Staates. Es besteht die Chance, gar nicht mehr wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig werden damit aber auch die Handlungsmöglichkeiten der Nicht-Beachteten radikal eingeschränkt.

Die Kontrolle durch den Staat ist zunehmend wie von Robert Castel beschrieben scheinbar rational und wissenschaftlich fundiert. Sir ruht nicht mehr auf deklarierten Werten, sondern auf der Interpretation von Statistiken. Die wertbezogenen Kampagnen rechtslastiger Politiker zum Beispiel gegen die „Schwulenehe“ sind da nur mehr propagandistisch wirksame Rückzugsgefechte.

Die Statistiken geben aber keinen Interventionspunkt im Einzelfall vor, also nicht, bei Vorliegen welcher Bedingungen der Staat dann doch (ev. auch mit Zwang) eingreift und sich damit Vollversorgungspflichten auflädt. Wir sehen das beim bereits erwähnten Beispiel der Jugendwohlfahrt: Die Einzelentscheidung ist jetzt noch eine in Abwägung des vorliegenden Falles vom Jugendamt zu treffende. Die Budgetzahlen geben aber vor, wie oft man sich eine Fremdunterbringungsentscheidung im Jahr erlauben kann. Und sie geben vor, dass man die Fremdunterbringung so rasch wie irgendmöglich wieder beenden soll. Überhaupt ein Traum der neuen Manager staatlicher Versorgungspflichten: Wenn schon wegen des Auseinanderdriftens von Arm und Reich nicht die Zahl der zu versorgenden Menschen reduziert werden kann, sollen die wenigstens schnellstens wieder aus dem System der Versorgung rauskomplimentiert werden können. Diesbezügliche Versuche im Bereich der Sozialhilfe waren aber noch nicht von nennenswertem Erfolg gekrönt.

In einem hast du sicher recht: Die Organisationen der Sozialen Arbeit werden zusehends in die Pflicht genommen, selbst Selektion vorzunehmen und selbst in Merkmalsgruppen zu denken und zu planen. Der ungebrochen anhaltende Sozialmanagement-Boom arbeitet sich daran ab. Fraglich, ob sich dadurch für die einzelnen Front-line Social Worker etwas ändert. Sie waren immer schon von den Schwenks der Organisationen, bei denen sie angestellt sind, abhängig. Günstigenfalls haben sie versucht, die Ansprüche ihrer KlientInnen auch gegen Richtlinien durchzusetzen oder an den Richtlinien vorbeizuschwindeln. Gleichzeitig gibt es aber auch in diesem Beruf zahlreiche übereifrige ProtagonistInnen, die Druck ungemindert an ihre KlientInnen weitergeben. Die Rede vom „doppelten Mandat“ der Sozialarbeit versuchte diesen Widerspruch zu fassen.

Was können wir in dieser Situation von Foucault und seinem Konzept der „Gouvernementalité“ lernen? Dass Soziale Arbeit sowohl Teil des Regierens (der Macht) als auch der Macht (dem Regieren) unterworfen ist? Welche Strategie legt ein Denken im Gefolge von Foucault für die Sozialarbeit nahe?

Lj.B.
Lieber Peter! Ich schreibe hier nicht nur als Philosoph, sondern auch als jemand, der mittlerweile mehr als ein Jahrzehnt lang Praxiserfahrung in und mit sozialen Berufen und somit auch genug Zeit gehabt hat, sie aus nächster Nähe kennenzulernen. Insofern blicke ich auf die Sozialarbeit nicht als eine fremde Angelegenheit. Ich betrachte sie als eines der mir nahen Themen und bin sehr daran interessiert, allerdings als jemand, der nicht die Effekte dieser Regulierungstechnologie vernachlässigen kann (und will). Vorerst sind die einzelnen SozialarbeiterInnen, egal ob übereifrig oder nicht, nicht Gegenstand meiner Überlegungen.

Für mich ist eine Theorie der Sozialarbeit nicht eine Sammlung von Anweisungen zur Durchführung der Techniken (Bratic 2002, 23), sondern ein Versuch, die Rationalitäten zu begreifen, die so etwas wie Sozialarbeit überhaupt möglich machen. Es geht darum, die Grenzen bestimmter Diskurse aufzuzeigen und dadurch auch näher zu bestimmen, wie die Dinge eigentlich heute und hier sind und wie sie funktionieren. Ich will hier von einer bestimmten historisch spezifizierbaren Rationalität schreiben. Die Sozialarbeit ist eine der Technologien, bei deren Analyse wir Einblicke in die Funktionsweise der sogenannten Gesellschaft bekommen. Dabei handelt es sich keineswegs um einen „Rundumschlag“: alles was ich im ersten Teil versucht habe, ist, die Position der Sozialarbeit heute zu verorten.

Unsere Gesellschaft ist durch einen Aufstieg von Überwachungs- und Kontrolltechniken charakterisiert. Ich verorte die Sozialarbeit als eine Rationalität innerhalb dieser Kontrolltechniken – übrigens in ehrenvoller Gesellschaft der Medizin, der Soziologie, der Psychologie, der Pädagogik, der Polizeiwissenschaften usw.

Der Staat ist nach Foucault (2000, 70) „nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalitäten“. Mit dem Kunstwort Gouvernementalität (1) – bestehend aus gouverner (Regieren) und mentalité (Denkweise) – verschiebt sich Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Foucaultsche Perspektive von einer Mikrophysik der Macht zu einer Konzentration auf die Formen der Subjektivierung und Subjektkonstituierung. Dabei werden die Machttechnologien (Einwirken von außen) und Selbsttechnologien (Einwirken von innen) als ineinenadergreifende Praktiken gedacht. Es geht vor allem darum zu zeigen, wie „Regierung“ über die Selbstregulationsfähigkeit von Subjekten operiert und wie diese wiederum mit den gesellschaftspolitischen Zielen (sogenannte Sicherheit) und mit ökonomischen Zielen (der Profitmaximierung) verbunden ist (vgl. Foucault 2000, 47).

Nun befinden wir uns zur Zeit im österreichischen Staat in einem Übergang von einer auf Solidarität (2) basierenden Staatsidee zur einer Rethorik der Überbelastung des Staates. Diese Diagnose der „Überlastung“ mündet in den Appell an individuelles Engagement und Eigeninitiative. Die Fragen der Armut verwandeln sich dabei von einer Frage der staatlichen Regulierung in eine Frage der Selbstsorge. Allerdings wird hier nur scheinbar an die alte liberale Idee der Freiheit der Einzelnen angeknüpft. Hier gebe ich dir Recht, wenn du von der Entlassung des Menschen schreibst. Allerdings sind diese Menschen keineswegs stimmlos ins Niemandsland geraten, wie aus deinen Zeilen zu lesen wäre.

Alles was wir zur Zeit erleben kann als eine Veränderung der Grenzziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen gelesen werden. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Sozialarbeit eigentlich eine Arbeit mit Armen ist. Plakativ gesagt: Es gibt keine Sozialarbeit für die Reichen. Die Sozialarbeit wird von Reichen bezahlt, und zwar um die Armen funktionsfähig zu machen.

Die Sozialarbeit als Technologie transformiert sich analog zu den Transformationen der jeweils historisch spezifischen herrschenden Rationalitäten. Das Problem der Armut und der Armen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Womit wir heute zu tun haben – gewissermaßen als Hintergrundfolie der von mir oben beschriebenen Formen der Auflösung des Sozialen – ist eine Verbindung von neuen Formen der Regierung der Marginalisierten mit einer neuen Logik sozialer Inklusion. Beides basiert auf Entscheidungsfreiheit, Autonomie und Konsum. Übrigens, hier nur beiläufig erwähnt, genau auf jenen Werten, die die 68er Generation – auch wenn deren Protagonisten das nicht sehr gerne zugeben – dem bürokratischen sozialstaatlichen Modell entgegen gesetzt hat. Die Menschen, die du als schutzlos in die Untiefen der Gesellschaft verschwinden siehst, sind weder sich selbst überlassen, noch gibt es niemanden, der auf sie aufpasst. Ganz im Gegenteil: Wir bekommen es in unseren Gesellschaften jetzt langsam mit dem Phänomen zu tun, dass – um ein Beispiel zu nennen – AIDS-kranke Menschen nur mehr mit AIDS-Kranken in Kontakt kommen. Sie kommen dabei zusammen, um Erfahrungen zu tauschen und um ihre Umwelt ihren Bedürfnissen anzupassen. Da wird aber mittels gewisser gesellschaftlicher Steuerungsinstrumente eine neue gesellschaftliche Gruppe konstruiert – und zwar aufgrund einer biologischen Unterscheidung, einer Krankheit. Ihre soziale Umwelt wird also gleichzeitig dekontextualisiert und neu kontextualisiert. Das nennt Rabinow Biosozialität.

Ich hatte nicht das Glück, das Jugendamt und seine Funktionsweise näher kennenzulernen, aber ich kann mir vorstellen, dass es sich bei den Jugendlichen, die wie du schreibst aus „dem System der Versorgung rauskomplimentiert“ werden, um eine ähnlich strukturierte Gruppe handelt. Die Überlegung, die seit Anfang der 70er Jahre mit dem, was allgemein Neoliberalismus genannt wird, daher kommt, ist folgende: Die Armen sind nicht länger nur passive Opfer der sozialen Bedingungen – wo der Staat als vermeintlich neutrale Instanz die gesellschaftlichen Konflikte und Ungleichheiten zu lösen hat (übrigens wenn ich richtig verstehe die Auffassung die in deinen Zeilen von Zurückziehung des Staates anklingt) – sondern AutorInnen ihrer Geschichte, die als AkteurInnen ihre Befindlichkeit selber gestalten. Die Armen sollen nicht mehr zur Hilflosigkeit durch das Wohlfahrtssystem gefördert werden, sondern mittels der Strategie des Empowerment soll ihre Selbstachtung mobilisiert werden, „um sie gegen Probleme sozialer Ungleichheit zu immunisieren und sie zum Handeln als verantwortliche StaatsbürgerInnen zu „ermächtigen““ (Piper 2003, 147).

Die Probleme sozialer Ungleichheit geraten somit wieder einmal in den Verantwortungsbereich der Betroffenen. Auf jene Selbstverantwortung wird angespielt in der Modeterminologie, die sich in das Sozialwesen einschleicht: Arbeitsmarkt-SERVICE, Job-Center, Kunde, Dienstleistung usw.

Um aber nicht auf die dumme Idee zu kommen, ihre neu erworbene „Freiheit“ zu verschlafen und vielleicht doch nicht Unternehmer ihrer selbst zu werden, gibt es Kontrollformen, die wie die Freiheit ausschauen – z.B. Flexibilität, sowohl was die Arbeitsbedingungen als auch was die Bildungsmaßnahmen betrifft. Jeder ist heutzutage frei zu wählen, auf welche Art und Weise Sie/Er zur Profitmaximierung beitragen darf. Wenn jemand aber da nicht willig ist, dann gibt es auch Rückgriffe auf disziplinierende Maßnahmen und Zwangsmitteln. z.B. Kürzungen oder Verlust der Unterstutzungsmittel, aber auch, was besonders den österreichischen Arbeitsmarkt betrifft, die Schikanen mit den Pflichtkursen, in denen einfach wochen- und monatelang gelernt wird, wie eine Bewerbung zu verfassen ist. Erst diejenigen, die durch alle diese neuen Steuerungsmechanismen der Effizienzsteigerung durchgebügelt wurden, werden zu unverbesserlichen Fällen oder sie füllen die Gefängnisse auf. Die Gefängnisse werden wiederum wahrscheinlich wie schon in den USA privatisiert oder – was noch interessanter ist vom Standpunkt nationalstaatlichen Rechts – in die „Billiglohnländer“ ausgelagert.

Die Lage der MigrantInnen, besonderes der illegalisierten, ist eine andere. Sie stellen gewissermaßen die neuen „working poor“ da. Sie sind hauptsächlich im Baugewerbe, im Dienstleistungssektor und in einem sich schnell entwickelnden Bereich der Privathaushalte zu finden. Sie sichern dadurch den Aufstieg bestimmter anderer, bis dahin unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen. Auch aus diesem Grund können (im Unterschied zur rechtsliberalen PolitikerIn bei dir) hauptsächlich linksliberale PolitikerInnen die Werte der Schwulenehe vertreten. Für die Schwulen genauso wie für die autonom agierende Frau und Unternehmerin erledigen die illegalisierten MigrantInnen die Reproduktionsarbeit im Haushalt. So entpuppt sich hier die Emanzipation der einen als direkter Ausschluss der Anderen. Ein großer Teil der Illegalisierten, die diese minimale Form der Existenzsicherung nicht schaffen, landet im Gefängnis. Das ist der Grund, warum die Gefängnisse im österreichischen Staat mit MigrantInnen überfüllt sind. Und was den Bereich der Sicherheit betrifft, liefern diese Daten jederzeit ein gewichtiges Argument, um das Überwachungs- und Kontrollpersonal noch mehr aufzubauen.

Abschließend möchte ich auf die Rolle der SozialarbeiterInnen, die ich in meinen bisherigen Überlegungen nicht behandelt habe, eingehen. Da gebe ich dir recht: in der Tat ist die Rede vom „doppelten Mandat“ der SozialarbeiterIn, vor allem jener, die Ansprüche der Klientinnen durchsetzen wollen, mittels der Instrumente der Gouvernementalitätstheorie nicht zufriedenstellend zu behandeln. Gouvernementalität entstammt der letzten Periode von Michel Foucault. Nach seinem Tod 1984 wurden diese Methoden von seinen Freuden, Schülern und Liebhabern weiter entwickelt, Ende der 90er Jahre im englischsprachigen Raum wieder aufgegriffen und seit dem Jahr 2000 im deutschsprachigen Raum verstärkt rezipiert. Zur Zeit findet sich keine linke theoriegewandte Zusammenkunft, die nicht die auf Foucault basierenden Überlegungen zur Biomacht von Georgio Agamben und die Gouvernementalitätsstudien diskutiert. Aber dem fehlt meiner Meinung nach die Ebene der Praxis, diejenige der empirischen Subjekte, die nicht gleichzusetzen sind mit dem, was Gouvernementalitätstheorie durch die Untersuchung der programmatischen Texte als Subjekte herausfindet. Die empirischen Subjekte sind produziert, aber sie konstituieren sich auch selbst. Der Keim der Unterwerfung wie auch des Widerstands steckt hier, von den Gouvernementalitätsstudien wird er bis jetzt nicht untersucht. Wie ich überhaupt mehr und mehr den Eindruck bekomme, dass ein paar wichtige Texten des späten Foucault über die Frage des Widerstands nur wenig rezipiert werden. Widerstand braucht m.E. aber eine Theorie, er ist kein reines Praxispänomen.

Der/die SozialarbeiterIn ist auch ein Subjekt – und ich verstehe insofern dein Beharren auf diesen Punkt, auch weil ich glaube, dass eindimensional daherkommende Beschuldigungen eine wichtige Korrektur in der alltäglichen individuellen Widerstandspraxis haben. Ich glaube nicht, dass sich die Frage der Funktion der SozialarbeiterInnen mit dem „Gegen das System sein!“ oder mit „Nicht ein Teil des Systems werden!“ befriedigend beantworten lässt, wie die alte linke Kritik an der Sozialarbeit suggerierte. Wir sind alle ein Teil der Gesellschaft, sogar diejenigen von uns, die wie Agamben (2002, 21) gezeigt hat, nur „nackte Leben“ ohne irgendeinem rechtlichen Schutz sich in einem prekären Raum des Ausnahmezustandes befinden, sogar sie sind durch die Ausschließung eingeschlossen. Es geht darum, zu begreifen, dass diese Gesellschaften oder deren politische Form – die des Nationalstaates – ein durch Antagonismen charakterisiertes soziales Beziehungsgeflecht darstellen. Somit befinden sie sich permanent in einer Beziehung der Auseinandersetzung, des sozialen Kampfes. Diese Auseinandersetzungen führen auch die SozialarbeiterInnen – und es ist an ihnen, individuell zu entscheiden ob sie sich für die Politik (3) als, wie Rancier sagt, Kampf für die Gleichheit, oder als Teil der Polizei (4) , also diejenigen, die Gesellschaft bürokratisch verwalten und jedem Versuch der Sprachlosen zu sprechen mit Zwang / Gewalt widersprechen. Die Identität der sozialen AkteurInnen SozialarbeiterInnen ist genauso unbestimmt wie das bei allen anderen der Fall ist und jegliche Fixierung ihrer Tätigkeit hängt ab von der Position, die sie im sozialen Kampf einnehmen. Hier befinden wir uns aber auf einem anderem Terrain als dem von Gouvernementalitätsstudien beschriebenen.


P.P.:

Gut, Ljubomir. Ich stelle mit kleiner Verwunderung fest, dass du letztlich die Ebene der Gesellschaftsanalyse verlässt und bei der Subjekttheorie wilderst, um die Unterscheidung zwischen „der Funktion“ der Sozialarbeit und der empirischen Praxis doch noch hinzukriegen. Was da anklingt, ist ein Nachhall der guten alten und inzwischen so gut wie nicht mehr rezipierten „Kritischen Psychologie“ von Holzkamp und Holzkamp-Osterkamp: Die Subjekte, also die einzelnen Menschen – in diesem Fall SozialarbeiterInnen – hätten die Wahl zwischen einer angepassten Praxis oder dem „Widerstand“. Entweder erfüllten sie ihre Funktion als Teil der Polizei (also der umfassenden Überwachung und Steuerung der Gesellschaft), oder sie kämpften als politische Subjekte für die Gleichheit.

Die Kritische Psychologie sah das so ähnlich, wenn sie auch hinzufügte, dass es hier nicht um endgültige Entscheidungen gehe, sondern dass in jeder Handlungssituation erneut die Frage nach „restringierter“ oder „erweiterter“ Handlungsfähigkeit stehe. Als restringierte Handlungsfähigkeit bezeichnete sie jene auf den kurzfristigen Vorteil bedachte, letztlich von Angst dominierte opportunistische Entscheidung, sich innerhalb der gegebenen Verhältnisse einzurichten und auf Aktivitäten zu deren Veränderung zu verzichten. Restringierte Handlungsfähigkeit heißt die Vermeidung kurzfristiger Risiken – um den Preis, den mittelfristigen Entwicklungen hilflos ausgeliefert zu sein.

Wenn aber nun Personen, hier SozialarbeiterInnen, ihre berufliche Rolle in „politischer“ Weise spielen, als AdvokatInnen der Gleichheit und nicht der Repression, so tun sie das nicht notwendigerweise mit einer Geste des Widerstands. Sie können das in voller Übereinstimmung mit dem Ethos ihrer Profession tun. An ihrem Arbeitsplatz aber ist es nicht die Logik der Profession, die den Tagesablauf beherrscht, sondern es ist die Logik der Organisation. Und deren Ethos (meist ein sehr pragmatischer) ist da doch anders, durchwirkt von Kalkülen der Steuerbarkeit (neuerdings: der Steuerbarkeit von KlientInnenströmen) und der Auftragserfüllung.

Ich bin skeptisch, ob der Begriff des „Widerstands“ hier produktiv und angemessen ist. SozialarbeiterInnen (zumindest in Europa) sind von der Gesellschaft (dem Staat oder via Spendengeldern von der Zivilgesellschaft) bezahlte AgentInnen. Sie sind Teil der gesellschaftlichen Steuerungsmechanismen. Sie beteiligen sich am Diskurs darüber, wie diese Steuerung erfolgen soll. Sie sind auf der Seite der TäterInnen. Und sie stehen, schon zur Sicherung ihrer eigenen beruflichen Existenz, für inkludierende und personalisierte Steuerung. „Widerstand“? Ja doch – gegen einzelne Maßnahmen. Als allgemeiner Gestus, als Überschrift über eine ganze berufliche Orientierung wäre dieser Begriff eine (Selbst-) Täuschung.

Doch betrachten wir nach den SozialarbeiterInnen nun die nächsthöhere Ebene, die Organisationen der Sozialen Arbeit.

Die traditionsreichen Organisationen der Sozialen Arbeit sind entstanden aus einem zivilgesellschaftlichen Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft, als im weiteren Sinn politische Vereinigungen, die einer Sorge um das „bonum commune“ entsprangen; oder als Agenturen des sogenannten Sozialstaats. All diese Organisationen tragen das Janusgesicht der Hilfe. Sie sind in dem Maße, in dem sie sich um das Wohl der Gesellschaft als Gemeinschaft sorgen, auch Instanzen der Kontrolle der Armen. Nicht-Kontrolle, was wäre das? Das könnte nur Ignoranz sein, ein konsequentes absichtsloses Nicht-Beachten (5) . Die Verbindung der Ausgeschlossenen zur Gesellschaft wäre dadurch nicht gekappt, aber es wäre ein „inneres“ System definiert, das sich gegen eine Wahrnehmung seiner Ränder immunisiert.

In den Handlungsprogrammen der Sozialen Arbeit bildet sich der Widerspruch von Hilfe und Kontrolle ab. Sie oszillieren zwischen Konzepten der Erziehung und solchen der „akzeptierenden“ Hilfe. Das von dir angesprochene Empowermentkonzept fügt sich ein in ein übergreifendes Erziehungsprogramm, das nicht auf die Soziale Arbeit beschränkt ist – ein Programm der Erziehung zur sogenannten Selbstermächtigung, zum aktiven Mitspielen, zur verantwortlichen Planung des eigenen Lebens. Dieses Erziehungsprogramm umfasst die Mittelschichten ebenso wie die Armen. Tugendhaft ist nicht mehr, sein Schicksal zu erdulden. Das Schicksal als Größe, auf die man sich in seinem So-Sein berufen könnte, wird eliminiert.

„Sein Schicksal selbst in die Hand nehmen“, dieses Ideal ist ein aufklärerisches Ideal. Der „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1784, S. 481) als pädagogisches Programm entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie.

Dieser Tage wurde von der Wiener Wohnungslosenhilfe das neue Haus Siemensstraße eröffnet. Die Leiterin stellte ein Konzept vor, das darauf baut, dass die künftigen Bewohner hier nur vorübergehend Unterkunft finden. Es ist ein Programm der Ertüchtigung (wenn man will: des Empowerment), darin den von dir erwähnten Kursen des Arbeitsmarktservice ähnlich. Solche Programme sind für manche KlientInnen tatsächlich hilfreich. Illusionär ist allerdings, dass alle davon profitieren könnten. Jene, deren Chancen für sozialen Aufstieg äußerst gering sind, für sie gibt es Perspektiven nur als Fata Morgana.

Was hat das mit Gouvernementalität zu tun? Interessant ist die Dominanz der Ertüchtigungsprogramme gegenüber den akzeptierenden Programmen; die Absurdität, dass die Ertüchtigungsprogramme immer dann Hochkonjunktur haben, wenn die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen besonders ungünstig sind. Interessant ist auch die Affinität von Ertüchtigungsprogrammen zu Zwangsprogrammen. Die Forderung nach Selbstständigkeit, von oben vorgegeben, legt den Zwang zu Selbstständigkeit nahe, das Reduzieren von Sorge für die Menschen. Das Gouvernementalitäts-Konzept ermöglicht es, auch die Ausrichtung der Sozialen Arbeit auf die Unterstützung der Selbststeuerung der Individuen (und der Herstellung von Verhältnissen, unter denen die Selbststeuerung möglich und erfolgreich werden kann) als Techniken der Gesellschaftssteuerung zu sehen und zu beschreiben. Es verstellt aber m.E. den Blick darauf, dass Soziale Arbeit innerhalb des Diskurses über die Gestaltung der Gesellschaft bzw. der Steuerungstechniken eine relativ eigenständige Position einnimmt. Sie steht für eine individualisierende (subjektorientierte), akzeptierende (lebensweltorientierte), dialogische und somit sanfte Steuerung. In ihren besten Modellen unterstützt sie die organisierte Artikulation der Interessen ihrer Zielgruppen. Das ist dialektisch zu sehen: Eben dadurch, dass sie über beruflichen Ethos eine reine Steuerungsaufgabe verweigert, erfüllt sie ihre spezifische Steuerungsfunktion. Sie arbeitet mit der Paradoxie des Rufes von oben nach Selbststeuerung der Individuen. Methodisch geht sie davon aus, dass ihre KlientInnen sich schon selbst steuern, dass sie also schon dort angelangt sind, wo sie hinsollen. Nur so gelingt es ihr, Ermöglichung von Selbststeuerung auch als Anforderung an die soziale Umwelt der KlientInnen zu formulieren.

Die KlientInnen können nicht aus der Gesellschaft flüchten. Ihr KlientInnenstatus ist ein stigmatisierter und stigmatisierender, ein Status reduzierter Mündigkeit. Ein Ausstieg aus diesem Status kann eine Befreiung aus Unmündigkeit sein, aber auch ein Absinken auf einen Status, wo sie keine Aufmerksamkeit mehr verdienen, wo der gelegentliche Zugriff der Polizei oder von Sicherheitsdiensten die letzten Reste von gesellschaftlicher Steuerung sind, die sie erfahren. Wenn die Selbststeuerung nach den Kriterien der Bearbeitungsprogramme nicht gelingt, wird der Ausschluss weitergetrieben.

Derzeit läuft die Soziale Arbeit Gefahr, ihre spezifische Funktion aufzugeben. Und zwar gerade deshalb, weil manche Institutionen der Sozialen Arbeit allzu eilfertig versuchen, ihrem vermeintlichen gesellschaftlichen Auftrag nachzukommen. Wenn Soziale Arbeit genau das macht, was die Politik von ihr verlangt, wird sie bald entbehrlich sein. Nur dann, wenn sie die Vorgaben der Politik zwar zur Kenntnis nimmt, aber unterläuft, bleibt sie nützlich. Sie funktioniert, weil sie nicht in erster Linie kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist (6). Sie bekommt Geld, weil sie auch kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist. Sie ist Teil des Regierens, daher kann sie weiterhin sein. Sie ist besonders wirksam, wo sie ihre Existenzbedingungen unterläuft. Und jene Sozialarbeitswissenschaft ist klug, die diese grundlegende Dialektik sieht und benennen kann.

Hier liegt m.E. eine Schwäche des Gouvernementalitäts-Konzeptes, und diese Schwäche ist analog einer Schwäche der aktuellen „linken“ Gesellschaftskritik: Der anklagende Gestus basiert auf einer auf halbem Wege stehengebliebenen Analyse, auf dem Ausblenden von Teilen der komplexen Dialektik gesellschaftlicher Erscheinungen. „Widerstand“ ist m.E. in der heutigen Gesellschaft keine geeignete orientierende Metapher, unter der sich humanitäre Praktiken subsummieren ließen. Die Frage nach einem anderen Weg bleibt offen.

(1) "Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus Institutionen, der Verfahren, Analysen und Reflexionen, der Berechnungen und der Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe der Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter Gouverbnementalität die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr lange Zeit zur Vorrangstellung dieser Machttypus, den man als "Regierung" bezeichnen kann, gegenüber allen anderen - Souveränität, Disziplin - geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischen Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe spezifischen Wissensformen andererseits zur Folge hat. Schließlich glaube ich, dass man unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalter, der im 15. Und 16. Jahrhundert zur Verantwortungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt "gouvernementalisiert" hat." (Foucault, 2003, 820 - 821)

(2) „Solidarität“ denke ich hier anschließend an Francous Ewald (1993, 227) als einer der großen sozialen Doktrinen des 19. Jahrhundert die vor allem die Funktion der Objektivierung der individuellen Pflicht als soziale Pflicht erfüllte.

(3) „Die Politik (...) ist die Aktivität, die als Prinzip die Gleichheit hat, und das Prinzip der Gleichheit transformiert sich in die Verteilung der Teile der Gemeinschaft im Modus einer Verlegenheit: von welchen Dingen gibt es Gleichheit und von welchen nicht, zwischen wem und wem?“ (Ranciere 2002, 9)

(4) „Was ich Polizei nenne, ist nicht eine spezifische Funktion der Kontrolle oder der Repression, sondern eine symbolische Konstitution der Gemeinschaft. Eigentümlich daran ist, dass sie den Raum der Gemeinschaft unter Ausschluss jeder Leere und jeder Ergänzung konstituiert.“ (Ranciere 2003, 6)

(5) Selbst wenn wir in einem Gedankenexperiment diese völlige Nicht-Beachtung postulieren, wären die Nicht-Beachteten selbstverständlich vielfach mit der Gesellschaft verbunden: Ihr ausgeschlossenes Sein wäre bedingt durch die Mechanismen der Gesellschaft, ihre Position eben dadurch definiert. Menschliches Sein ist immer gesellschaftliches Sein.

(6) Bardmann (2001) schreibt von der „Schmuddeligkeit“ der Sozialarbeit, von „Eigenschaftslosigkeit als Eigenschaft“. Er betrachtet ihre Fähigkeit, sich nicht festlegen zu lassen, als Bedingung ihrer Möglichkeiten. Man könnte sagen, Sozialarbeit tut, was sie tun soll, und tut es doch nicht. Versuche, sie dazu zu bringen, dass sie endlich tut, was sie tun soll, würden dann dazu führen, dass sie nicht mehr tun kann, was sie soll. Oder anders: Wenn Sozialarbeit nur mehr Teil der Regierung ist, verschwindet sie als Profession.



Literatur

Agamben, Giorgio (2002) Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/Main.

Bardmann, Theodor M. (2001): Eigenschaftslosigkeit als Eigenschaft. Soziale Arbeit im Lichte der Kybernetik des Heinz von Foerster. In: Das gepfefferte Ferkel. Online-Journal für systemisches Denken und Handeln November 2001: http://www.ibs-networld.de/ferkel/von-foerster-05.shtml am 8.3.2002.

Bratic, Ljubomir (2002) Soziale Arbeit als Machttechnik. Master Thesis an der Donau-Universität Krems. Im Rahmen des postgradualen Universitätslehrgangs „Soziale Arbeit und Sozialmanagement“.

Bratic, Ljubomir (Hg.) (2002): Landschaften der Tat. Vermessung, Transformationen und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa. St.Pölten.

Bratic Ljubomir (2004) Tod der Integration? Die neue Wiener Migrationspolitik als Regierungstechnik In: Büro für ungewöhnliche Maßnahmen – BUM (Hg.) Historisierung als Strategie. Positionen – Macht – Kritik, Wien 24 - 35.

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