Texte

Gibt es KlientInnen, die wir nicht mögen? Nicht-Hilfe als Teil der Sozialen Arbeit.

Referat in einem Workshop der Armutskonferenz, 5. März 2008, Salzburg.

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Vorbemerkungen 

Ich muss zuerst eine Erläuterung zum Titel dieses Referats anbringen. Ich spreche von Sozialer Arbeit, aber ich meine damit nicht nur die professionelle Sozialarbeit. In meinem Verständnis ist Sozialarbeit die Profession, die am gründlichsten die Bedingungen von institutioneller Hilfe studiert hat. Wenn sie über sich selbst spricht, spricht sie immer auch über organisierte Hilfe im Allgemeinen. Ich spreche also über Probleme des Sozialwesens, über solche der Akteure im Sozialwesen, woher sie auch kommen mögen, nicht nur über Probleme der professionellen Sozialarbeit.

Eine zweite Vorbemerkung:

Elisabeth Hammer und Marc Diebäcker haben in diesem Workshop bereits auf die bedenklichen politischen Entwicklungen hingewiesen. Wie ich die beiden kenne, haben sie wohl vor allem die Vergötterung des Marktes angeprangert. Sie sprachen von Neoliberalismus. Ich möchte den Akzent ein wenig anders legen. Ich schätze Markt und Wettbewerb als Formen der Selbstorganisation der menschlichen Gesellschaft. Ich halte es nicht für wünschenswert, dass es ein Monopol des Staates bei der Erbringung von sozialen Dienstleistungen gibt.

Aber die richtige Kombination von staatlicher und privatrechtlicher Organisation von Hilfe ist heute nicht mein Thema. Mich interessiert, wie die Sozialarbeit selbst zu Prozessen des Ausschlusses beiträgt, wie sie sich bereitwillig beteiligt an der Exklusion. Ich will nicht extern Feinde suchen, sondern zu einem selbstkritischen Diskurs anregen. 

Soziale Arbeit als Komplize der Herrschenden?

Die Sozialarbeit als Beruf hat bekanntlich eine prekäre Identität. Einerseits versteht sie es, sich mit gehörigem Pathos als die Anwältin der Entrechteten zu stilisieren. Ich zitiere da gerne die Präambel zum Code of Ethics der National Association of Social Workers der USA, die größte Berufsvereinigung der Sozialen Arbeit. Da heißt es: „The primary mission of the social work profession is to enhance human well-being and help meet the basic human needs of all people, with particular attention to the needs and empowerment of people who are vulnerable, oppressed, and living in poverty. A historic and defining feature of social work is the profession's focus on individual well-being in a social context and the well-being of society. Fundamental to social work is attention to the environmental forces that create, contribute to, and address problems in living.“

Auf der anderen Seite musste sie sich immer wieder auch die Komplizenschaft mit dem Herrschaftssystem vorwerfen lassen, ihre Beteiligung an Kontrolle, Disziplinierung und Bestrafung. Michel Foucault charakterisierte die Sozialarbeit als Teil der Regierung. Sie pflegt die Tradition des Geständnisses, sie befördert die Selbstdisziplinierung ihrer Klienten.

Tatsächlich wird Soziale Arbeit gesellschaftlich finanziert, zu einem nicht unerheblichen Teil aus Steuergeldern. Formulieren wir es vorsichtig: Sozialarbeit ist zumindest auch ein Ordnungsfaktor.

Aber es geht hier ja um „KlientInnen, die wir nicht mögen“. Nicht mögen, da scheint es um mangelnde Sympathie, ev. daraus resultierendes mangelndes Engagement zu gehen, nicht um so abstrakte Fragen wie die, was denn „die“ Funktion „der“ Sozialarbeit sei.

Werden wir also konkret. Werden wir konkret mit einer der Geschichten, die mir zu diesem Thema eingefallen sind. Ein Beispiel:

Jenny

Ich nenne sie für heute Jenny. Jenny war, zum Zeitpunkt, als ich sie kennenlernte, eine 17-jährige Jugendliche. Sie hatte einen Stiefvater, der sie missbraucht hatte, eine Mutter, die sie immer wieder abschob und mit der sie nicht zurande kam. Sie hatte eine Karriere von Aufenthalten in zahlreichen Heimen und Wohngemeinschaften hinter sich, dazwischen immer wieder einmal einen Psychiatrie-Aufenthalt. Als ich sie kennenlernte, war sie an einem institutionellen Ort, wo  sie bleiben konnte. Dort lief sie auch weg, brach in das Privathaus der Wohngemeinschaftsleiter ein, tyrannisierte zeitweise die jüngeren Mitbewohner, kam wieder in die Psychiatrie, dann in eine andere WG, wollte wieder zurück. Sie wurde wieder aufgenommen, erhielt dichteste Betreuung. Sie wurde nie abgeschrieben. Dem hochprofessionellen Team dieser WG gelang es, mit den Belastungen fertigzuwerden, die Jenny ihm bereitete.

Sie ist ein Beispiel für Kinder und Jugendliche, die unter besonders schwierigen Bedingungen aufgewachsen sind, die in ihrer Karriere auch noch zahlreiche Zurückweisungen durch Hilfseinrichtungen erfahren haben. Sie war oft rausgeschmissen worden aus Heimen und WGs, weil sie untragbar gewesen sei, weil sie in der Gruppe nicht mehr haltbar bzw. der Gruppe nicht zumutbar sei etc. Lauter Bestätigungen, dass diese Welt nicht für sie gebaut ist. Lauter Bestätigungen für die Hilflosigkeit der Helferinnen und Helfer. Lauter Bestätigungen für die Vergeblichkeit von Hoffnung.

Ich halte einmal 2 Vokabeln fest, die bei solchen Fällen gerne verwendet werden: „untragbar“, „nicht haltbar“, gerne auch einmal, jemand gefährde die anderen KlientInnen. Vielleicht kommen wir im Rahmen dieses Vormittags zu einer kleinen Sammlung ausgrenzender Vokabeln.

Ging es hier um Sympathie, um Antipathie? Überall dort, wo Jenny rausgeschmissen wurde, ging es um die Aufrechterhaltung einer einmal gefundenen Organisationsform. Jenny passte nicht ins Arrangement, also musste sie gehen. Und Jenny ist nicht die einzige, die gehen muss, es gibt immer noch viele Schicksale wie ihres.

Ein zweites Beispiel.

die Schneiders

Auszug aus einem Jugendamtsbericht: In der Familie Schneider war es offensichtlich dazu gekommen, dass Herr Schneider seine Frau und deren Tochter geschlagen hat. Die Schulsozialarbeiterin hat mit Frau Schneider gesprochen, Frau Schneider sei kooperativ gewesen. Man habe ihr nahegelegt, sich von ihrem Mann zu trennen. Das hat sie dann nicht gemacht, es kam wieder zu Übergriffen. Die Familie wurde ins Jugendamt vorgeladen. Sie teilte mit, dass ohnehin wieder alles in Ordnung sei, man daher nicht zum Gesprächstermin kommen würde. Reaktion des Jugendamtes: Eine Gesprächsverweigerung bei weiteren ähnlichen Vorkommnissen würde als „nicht kooperativ“ bewertet, es werde dann das Pflegschaftsgericht eingeschalten.

Ein neues Vokabel ist hier aufgetaucht: „kooperativ“ bzw. „nicht-kooperativ“. Dieser schöne Begriff der Kooperation wird hier offensichtlich dafür benutzt, um ihn gegen die KlientInnen zu wenden. Und bist du nicht kooperativ, so tu ich vorerst gar nichts, später dann setze ich Zwang ein.

In beiden Fällen ähnelt die Vorgangsweise mancher (keineswegs aller) Profis jener der „nicht-kooperativen“ Eltern gegenüber ihren Kindern. Sie setzen deren Wohlverhalten voraus, und wenn sie sich nicht wohl verhalten, reagieren sie mit Ausschluss oder mit Zwang. Die Hilfseinrichtungen wiederholen das gescheiterte Muster der elterlichen Erziehung in ihrem Umgang mit den KlientInnen. Sabine Ader hat das am Beispiel von Fällen aus der Deutschen Jugendwohlfahrt schön aufgewiesen. Auch bei den HelferInnen sind solche Muster der Ausdruck von Hilflosigkeit, hier von professioneller Hilflosigkeit. Sie können – wie die Eltern, wenn man sich nur dafür interessieren würde – immer Gründe dafür angeben, wieso sie so handeln und angeblich handeln müssen. Mangelnde Ressourcen, die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung eines geordneten Gruppenbetriebs usw.

Ich will noch ein bisserl bei dem Vokabel bleiben, bei der Vorstellung, KlientInnen müssten kooperativ sein. Es gibt da ja auch dieses Wort „Compliance“. Und die Rede davon, dass erfolgreiche Hilfe ein kooperativer Prozess sei, also die Mitwirkung der KlientInnen benötige. Alles wichtige Erkenntnisse. Irritierend ist allerdings, dass dieses Wissen manchmal nicht als Aufforderung an die Soziale Arbeit verstanden wird, sondern gegen die KlientInnen gewendet zur Anwendung kommt: Wenn du nicht kooperierst, wenn du Widerstand entwickelst, dann bist du der Hilfe nicht würdig, oder dann ist eine Beschäftigung mit dir und deiner Not ohnehin sinnlos.

Man erlaube mir den bescheidenen Hinweis, dass Sozialarbeit als Profession m.E. nur dadurch ihre Berechtigung hat, dass sie die Kunst beherrscht, mit Menschen zu kooperieren, die nicht kooperieren wollen. Oder andersrum: dass sie das Werben um die Mitarbeit der KlientInnen für ihre eigene Aufgabe hält. 

Ich nenne das Pseudoprofessionalität. Eine Haltung, die es für einen Ausweis von Fachlichkeit hält, den Zugang genau zu kontrollieren, die Regeln an die erste Stelle zu setzen. Zuständigkeiten penibel zu beachten.

Arlt: „Meist ist die Zahl derer bekannt, denen geholfen wurde, nicht die der Übrigbleibenden“ (1958 Wege zu einer Fürsorgewissenschaft)

Wir haben uns z.B. Suchtberatungseinrichtungen angeschaut. Den Erfolgsberichten haben wir gegenübergestellt, wie viele potenzielle KlientInnen es im Zuständigkeitsbereich der Beratungseinrichtung gibt, und haben das zur Beurteilung der Wirksamkeit der Einrichtungen herangezogen. Das rief nicht nur Jubel hervor. Aber wir halten es für eine entscheidende Frage, ob eine Einrichtung ihre Zielgruppe überhaupt in nennenswertem Ausmaß erreicht.

Potenzielle KlientInnen unsichtbar zu machen, indem man sich für sie nicht zuständig fühlt, indem man die Öffnungszeiten und den Zugang so ansetzt, dass man nur durch die fitteren erreichbar ist, das ist in erster Linie Ausschluss, ist Hilfeverweigerung.

subjektive Gründe

Gibt es KlientInnen, die „wir“ nicht mögen? Wenn „wir“ die Profession der Sozialen Arbeit sein soll, dann ist diese Frage klar zu verneinen. Im Gegenteil: Erst in der Arbeit mit den Ausgegrenzten, den Schwierigen, den Lästigen und den Hoffnungslosen kann sich die Meisterschaft der Sozialen Arbeit entfalten. KlientInnen, die uns herausfordern, können uns anspornen, sie tragen zur Weiterentwicklung unseres methodischen Könnens bei und regen die Innovation an. Zu den großen Verdiensten der Sozialen Arbeit gehört, dass sie immer wieder neue Konzepte und Handlungsformen generiert. Sie bedient sich dabei schamlos bei den Nachbarprofessionen und den Nachbarwissenschaften. Sie hat ein Recht auf diese Schamlosigkeit, weil sich jene ebenso bedenkenlos und ohne Hinweis auf die Herkunft ihrer Konzepte bei der Sozialarbeit bedienen. Sozialarbeit entwickelt Wege der Inklusion. Und sie engagiert sich gerne für sozialpolitische Innovation, um Inklusionsmöglichkeiten zu schaffen. Manche bezeichnen das als den politischen Auftrag der Sozialarbeit.

Gut, die Profession in ihrem sachlichen und fachlichen Kern, das berufliche Ethos, die Sozialarbeitswissenschaft, die kennen keine unerwünschten KlientInnen. Wieso scheint es sie aber doch zu geben? Woher kommen die Abwehrstrategien, und welche KlientInnen sind davon betroffen?

Beginnen wir mit der ersten Frage: Woher kommen die Abwehrstrategien, wenn sie nicht aus der Fachlichkeit der Sozialen Arbeit kommen?

Nehmen wir als Beispiel die Mitwirkung der Sozialarbeit an der rassistischen und der Erbgesundheits-Politik des Nationalsozialismus. Zugegebenermaßen hat es sich damals um eine erst marginal professionalisierte Sozialarbeit gehandelt, aber ich bin mir nicht so sicher, dass unter ähnlichen machtpolitischen Vorzeichen heutige SozialarbeiterInnen nicht ähnlich handeln würden. Wie können SozialarbeiterInnen Selektionsaufgaben vor sich selbst, vor ihrem fachlichen Gewissen rechtfertigen?

Ich kann mir einige Ansätze vorstellen.

Einer davon ist der Hang zum Opportunismus, der vor einer Profession mit lupenreinem Professionsethos nicht Halt macht. Menschen, die im Sozialwesen arbeiten, sind nicht von vornherein tapferere, nonkonformistischere Menschen. Sie sind nicht moralisch sauberer als Bauarbeiter, nicht mutiger als Ärztinnen, nicht großherziger als Geschäftsführer, nicht unbestechlicher als Juristinnen. Sie sind Menschen, die auch auf den eigenen Vorteil schauen. Sie sind Menschen, die bereit sind, Dinge zu übersehen, deren Wahrnehmung unangenehm werden könnte. Sie neigen auch dazu, sich die eigene Anpassung schönzureden.

Ein weiterer ist, dass sie mit der Exklusion von Menschen mit bestimmten Merkmalen ganz einfach einverstanden sind. Wir und unsere Kolleginnen und Kollegen sind nicht vorurteilsfrei.

Und schließlich will ich noch eine andere Form von Ignoranz aufzeigen: Die Ignoranz gegenüber der Komplexität, der Reflexions- und Wissensbedürftigkeit von Sozialer Arbeit. Die Ignoranz gegenüber dieser Anforderung, den KlientInnen gegenüber gleichzeitig empathisch und distanziert sein zu müssen. Ohne mitmenschlicher Zuwendung verlassen wir unser berufliches Ethos, verlieren wir die Basis für unsere Profession. Ohne fachliche Nüchternheit geben wir unsere Professionalität auf, sind wir nicht mehr hilfreich.

Dazu kommt der ganz normale menschliche Ärger über Personen, die einem das Leben schwer machen. Und manche Klientinnen und Klienten machen einem das Leben sehr schwer.

Bekanntlich ist die bedingungslose Aufopferung der HelferInnen für ihre KlientInnen nicht der Weg, der zu gelingender Hilfe führt. Zur Aufrechterhaltung guter Arbeit bedarf es also Maßnahmen. Meines Erachtens ist es aber nicht die hier oft genannte „Abgrenzung“, die die Lösung bringt. Die Betonung der Notwendigkeit von „Grenzziehungen“[1] ist oft eine Entscheidung für die vorrangige Berücksichtigung der Bedürfnisse der HelferInnen und die Missachtung der Bedürfnisse der KlientInnen. Vordergründig scheint das zwar die HelferInnen zu entlasten, aber um den Preis einer Entfremdung von der eigenen Berufsmotivation. Im schlimmsten Fall kann dieser Kult der Grenzziehung also zu genau dem führen, was er zu verhindern vorgibt: zum Burnout.

Die HelferInnen brauchen allerdings Hilfe, und diese ist ihnen zum Nutzen der KlientInnen umfassend zu gewähren. Sie benötigen das fachliche Team, das auf der Ebene reflektierter Methodik die Schwierigkeiten als methodisch-handwerkliche Schwierigkeiten thematisiert, sie brauchen die persönliche und die fachliche Anerkennung ihres Einsatzes, sie brauchen arbeitsmäßige Entlastung durch ein Team, und sie brauchen eine personenzentrierte Unterstützung durch Supervision.

Also zur zweiten Frage: wer ist davon betroffen? Das können Sie wahrscheinlich selbst beantworten, aus Ihrer Felderfahrung.

Günther

Ich will Ihnen noch ein Fallbeispiel erzählen, wieder aus dem Feld der Jugendwohlfahrt, und es ist ein historisches Beispiel.

Ich erinnere mich an einen Jugendlichen, nennen wir ihn Günther, der in den 1970er-Jahren zu meiner Zeit in einem Wiener Jugendamt die Kolleginnenschaft in Atem gehalten hat. Er kam recht gern in unser Amt, aber wie er sich aufgeführt hat … Er spuckte, schimpfte ordinärst, war nicht oder selten bereit, wieder zu gehen, wenn man ihm sagte, dass man nun für ihn keine Zeit habe. Heute haben wir ein Wort dafür: Tourette-Syndrom. Damals hatten wir dieses Wort nicht. Wir hatten kein fertiges Erklärungsmuster für sein Verhalten. Solche Muster können verschiedene Wirkung haben: sie können stigmatisieren, sie können aber auch beruhigen. Hätten wir damals den Begriff „Tourette-Syndrom“ zur Hand gehabt, wären wir wohl beruhigter gewesen. Seine Sozialarbeiterin war übrigens eine alte Dame, na ja, sie war damals wohl ungefähr so alt, wie ich jetzt bin. Sie lieferte mir Anschauungsunterricht in sozialarbeiterischer Professionalität. Sie hatte keinen Begriff für das irritierende und beängstigende Verhalten des Jugendlichen. Das hinderte sie aber nicht daran, seine unappetitlichen Auftritte als gegeben hinzunehmen. Sie redete beruhigend auf ihn ein, brach den Kontakt zu ihm keineswegs ab, kümmerte sich im Gegenteil rührend um ihn und versuchte ihm Möglichkeiten aufzuzeigen, weniger anzuecken. Manchmal war sie auch energisch, aber nie abweisend oder verletzend, immer respektvoll. Frau Balon, das war der Name der Kollegin, und er sei hier ehrend genannt, verstand nicht, wieso sich der Jugendliche so unappetitlich verhielt. Was sie verstand, war, dass sie ihm trotzdem mit Respekt und Fürsorglichkeit, mit Mitmenschlichkeit begegnen muss, will sie irgendeinen Erfolg erzielen. Es sei auch noch erwähnt, dass die Kollegin in den frühen 1940er-Jahren Fürsorgerin geworden war. Ihr Amtsleiter war zu ihrem Dienstantritt ein SS-Mann. Sie selbst war, wie sie mir erzählte, als junge Fürsorgerin völlig naiv auch noch an der Aussonderung von behinderten Kindern für die Vernichtung beteiligt.

Managerialismus 

Seit Beginn der 1990er-Jahre hat sich im Sozialwesen eine Tendenz, ja eine Ideologie, breitgemacht, die unsere britischen Kolleginnen und Kollegen als „Managerialism“ bezeichnen. Managerialism, das ist die Praxis und Vorstellung, alles Handeln habe sich nach den Handbüchern zur Betriebsführung zu richten.

Zu den Indikatoren für Managerialism gehören die ökonomisierte Sprache, die „Macher“-Sprache: das Gerede von „Kunden“ und „Leistungen“, von „Produkten“ und „Dienstleistungen“, die überzogene Ziel- und Abrechnungsverliebtheit.

Die Planbarkeit des Arbeitseinsatzes in der Sozialarbeit ist durch einige in der Sache liegende Faktoren deutlich eingeschränkt. Sozialarbeit als Hilfestellung bei einem nicht-gelingenden Alltag ist in ihrem Fortgang wesentlich von Prozessen abhängig, die sich ihrem direkten Zugriff entziehen. Es ist die Logik und Dynamik der wirklichen Lebenssituation der KlientInnen, die Tempo und Zeitaufwand bestimmen. Das bedeutet einmal Verlangsamung bis zum Stillstand, dann Phasen rasanter, manchmal krisenhafter Zuspitzung und Entwicklung. Dieser Ablauf ist charakteristisch für hochkomplexe Systeme, und wenn jemand ein Bild dazu braucht, so sei auf analoge Dynamiken in der Politikgeschichte verwiesen: Die relative Stagnation der politischen Situation in Europa in den 80er-Jahren und die Rasanz der Umbrüche 1989/90. Ähnliche Abfolgen von scheinbarem Stillstand und dramatischen Entwicklungen finden wir bei vielen Fällen der Sozialarbeit. Eine Untersuchung dieser Abfolge von Langsamkeit und Beschleunigung, der unterschiedlichen Zeitlogiken von Entwicklungen des Alltagslebens und der Beratung/Betreuung steht meines Wissens noch aus.

Es sind mehrere Systemdynamiken, die für eine erfolgreiche Fallbearbeitung eine Rolle spielen:

Die Körperlichkeit der KlientInnen, ihr Bewusstsein, das soziale System des nahen Umfelds, gesellschaftliche Funktionssysteme: Sozialarbeit ist methodisch unbescheiden bis zum Größenwahn: Sie interveniert in das System Bewusstsein (Beratung), nahes Umfeld und Funktionssysteme (Feldinterventionen). Ihre Interventionen sind aber sanft, und sie sind umso wirkungsvoller, als sie die Eigendynamik der Systeme zu nutzen verstehen. Es ist eine Kombination aus Größenwahn und Bescheidenheit (Wissen von der Beschränktheit der eigenen Eingriffsmöglichkeiten), die ihren Reiz und ihr Potenzial ausmachen.

Zurück zur Logik und Ökonomie der Zeit: Die methodischen Probleme scheinen relativ klar: In Zeiten des scheinbaren Stillstands bereiten sich die großen Veränderungen vor, aber das ist nicht notwendigerweise erkennbar. Der Arbeitseinsatz ist zu diesen Zeiten relativ gut planbar, aber er zeitigt vorerst keinen erkennbaren Effekt. Es ist auch unklar, ob er jemals Wirkung zeigen wird; in Zeiten der Beschleunigung ist intensiver Einsatz angesagt, der Effekt ist sehr groß, die Planbarkeit ist gering, denn die Beschleunigung kann völlig überraschend von einem Tag auf den anderen eintreten. Aber nicht einmal dieser Ablauf ist antizipierbar. In anderen Fällen sind die Entwicklungen nämlich langsam und relativ kontinuierlich, zu einer Beschleunigung kommt es nie. Die stattgehabte Veränderung erschließt sich erst im Rückblick: Siehe da, es hat sich ja tatsächlich etwas geändert in den letzten zwei Jahren.

Soweit die Zeitlogik der Fälle. Für Organisationen ist ein solcher Ablauf ein Horror. Die mittelfristige Planung des Arbeitsaufwandes je Fall ist nur schwer möglich, eine diagnostisch orientierte Eingangsphase ändert da wenig. Wer weiß schon, wann die Beschleunigung eintritt? Viele Organisationen reagieren darauf mit einem gezielten Ignorieren der zeitlichen Eigenlogik der Fälle. Und siehe da: it works. Die Organisationen haben die Macht, ihren eigenen Einsatz zu bestimmen.  Und wenn intensive Begleitung in Krisensituationen nicht vorgesehen ist, dann wird sie eben nicht geleistet. Das Misslingen von Interventionsprozessen lässt sich ja bequem den KlientInnen schuldhaft anlasten: Sie sind zu schlecht organisiert. Hier wird tautologisch argumentiert. Die Inanspruchnahme von Hilfe ist etwas, das man können muss, und diese Fähigkeit korrespondiert mit den Fähigkeiten, die man für ein Bestehen in der leistungsorientierten Gesellschaft sich selbst disziplinierender Individuen benötigt. You see: Das Sozialwesen tendiert dazu, die Mechanismen der Gesellschaft, in die es eingebettet ist, zu verdoppeln[2], allerdings kräftig garniert mit einer Anleihe bei den mechanistischen Planungsillusionen des untergegangenen Realsozialismus.

Zielverordnung: Neben der unerträglichen Phrase von der „Krise als Chance“ hatte in den letzten Jahren auch jene moralisierende andere Konjunktur: „Wer kein Ziel hat, für den ist kein Weg der richtige“. Gemeint ist sie i.d.R. nicht als Frohbotschaft der Gelassenheit und der Möglichkeit des sinnvollen Stehenbleibens und Rastens, sondern als Imperativ: Du musst Ziele formulieren, einen Lebens- bzw. Behandlungsplan machen. Dokumentationssysteme werden so angelegt, dass Ziele zu benennen sind, denen jeweils Maßnahmen zugeordnet werden sollen. Was die Managementebene mit Zielen meint, ist in aller Regel die statische Zielplanung, die im Rahmen einer Zielvereinbarung mit den KlientInnen über einen mittleren oder längeren Zeitraum (3 Monate und mehr) festlegt, worum es im Interventionsprozess gehen soll. Die dahinterliegende Vorstellung ist, dass sich durch Zielformulierung und Zielvereinbarung Interventionsprozesse überschaubar und abrechenbar gestalten könnten. Wird das Ziel nicht erreicht, kann gefragt werden, warum das so gewesen sei. Wird es erreicht, kann die Arbeit als erfolgreich abgehakt werden. Praktisch begünstigt diese Vorstellung Schematismus und die Verordnung von Zielen durch die Organisation[3]. Das Elend dieser Art von Zielplanung zeigt sich in Hilfeplänen, bei denen erkennbar die Eigendiagnosen und persönlichen Ziele der KlientInnen nicht vorkommen oder überhaupt nicht adäquat abgefragt wurden. Die Fachkräfte lösen ihr eigenes Problem, nämlich ein Formular mit Zielen zu füllen, indem sie auf das scheinbar Naheliegende zurückgreifen: Auf die Norm. Wer säuft, soll trocken werden, wer seine Kinder schlägt, soll damit aufhören, wer keine Arbeit hat, soll fit for work werden. Bei Nicht-Gelingen wird Abbruch der Hilfe in Aussicht gestellt und scheint auch legitimiert.

Habitualisiertes Beantworten von Problemen der Lebensführung mit institutionellen Angeboten: Während das Eingehen auf die Möglichkeiten, die sich im Lebenszusammenhang der KlientInnen selbst finden, das Zulassen von Unwägbarkeiten und mitunter beträchtliche Verzögerungen bei der Fallbearbeitung erfordern würden, ermöglicht der habitualisierte Rückgriff auf institutionelle und professionelle Ressourcen oft eine rasche und in der Organisation gut akzeptierte „Lösung“ von auftauchenden Problemen[4]. Die Beschäftigung von Institutionen des Sozialwesens mit Personen, die einmal die Beachtung des Funktionssystems gefunden haben, kann also rasch eskalieren und Metastasen erzeugen. Aus der Perspektive einer einzelnen Organisation betrachtet, bleiben so die Fälle übersichtlich und können Entscheidungen relativ rasch getroffen werden. Eine Draufsicht auf das System lässt jedoch einen fortschreitenden Ersatz des „natürlichen“ sozialen Umfelds jener KlientInnen durch institutionalisierte Substitute erkennen.

Schließlich generiert der Versuch einer weitgehend von der Einzelfalllogik abgekoppelten Vorstrukturierung von Fallbearbeitungsprozessen Respektlosigkeit: Er verlangt die Unterordnung der KlientInnen unter die Ablauflogik der Organisation, und zwar vorerst relativ unabhängig davon, wie drängend oder auch relativ stabil seine derzeitige Lebenssituation ist.

genügt das Ethos des Berufs? 

All diesen Strategien der Organisationen steht das Ethos des Berufs gegenüber. Es verlangt Achtung vor den KlientInnen, ein Eingehen auf deren Bedürfnisse, ein Engagement gegen soziale Ungerechtigkeit. Aber wie das eben so ist mit dem Ethos: Es wird allzuleicht schal und leer, vor allem, wenn es in der täglichen Arbeit und im Leben der Organisationen nicht mit Macht gekoppelt ist. 

Diese Macht wäre zu erringen: Der Sozialarbeit kann es als Profession nur nützen, wenn die KlientInnen eine Stimme bei der Diskussion um Standards der Sozialen Arbeit hätten. Dazu wären allerdings selbstständige Organisationsformen erforderlich, die nicht gleichzeitig jene der Profession wären bzw. die nicht von der Sozialarbeit dominiert wären: eine Frage der Glaubwürdigkeit. Die spürbaren Vorbehalte des Berufsstandes gegen eine Kontrolle durch die NutzerInnen (oder von den NutzerInnen beauftragten Personen / Organisationen) sind kontraproduktiv. Es wäre zu wünschen, dass die Profession in ihrem Selbstverständnis endgültig in einer demokratischen Welt ankäme und die letzten (?) Reste eines paternalistischen und/oder maternalistischen Verständnisses ihrer Funktion entsorgte: Was Sozialarbeit macht, ist nicht per se und automatisch gut und moralisch sauber. Sie kommt nicht ohne Kontrolle durch die NutzerInnen aus.

Daneben bedarf es einer Formulierung professioneller Standards oberhalb der Ebene der einzelnen Organisationen. Auch dies wäre zu verstehen als ein Gegengewicht zu den Normierungsversuchen des Managerialism: eine Stärkung der Stimme der Profession gegenüber der Definitionsmacht der Leitungsebenen.

Diese Stärkung von Gegengewichten ermöglichte erst ein Aushandeln und Ausbalancieren jener Ambivalenz, die Existenzbedingung der Sozialen Arbeit ist. 

Derzeit läuft die Soziale Arbeit Gefahr, ihre spezifische Funktion aufzugeben. Und zwar gerade deshalb, weil manche Institutionen der Sozialen Arbeit allzu eilfertig versuchen, ihrem vermeintlichen gesellschaftlichen Auftrag nachzukommen. Wenn Soziale Arbeit genau das macht, was die Politik von ihr verlangt, wird sie bald entbehrlich sein. Nur dann, wenn sie die Vorgaben der Politik zwar zur Kenntnis nimmt, aber unterläuft, bleibt sie nützlich. Sie funktioniert, weil sie nicht in erster Linie kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist. Sie bekommt Geld, weil sie auch kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist.[5] Sie ist Teil des Regierens, daher kann sie weiterhin sein. Sie ist besonders wirksam, wo sie ihre Existenzbedingungen unterläuft. Und jene Sozialarbeitswissenschaft ist klug, die diese grundlegende Dialektik sieht und benennen kann.

 

Literatur

Ader, Sabine (2006): Was leitet den Blick? Wahrnehmung, Deutung und Intervention in der Jugendhilfe. Weinheim und München.

Arlt, Ilse (1958): Wege zu einer Fürsorgewissenschaft. Wien.

Bardmann, Theodor M. (2001): Eigenschaftslosigkeit als Eigenschaft. Soziale Arbeit im Lichte der Kybernetik des Heinz von Foerster. In: Das gepfefferte Ferkel. Online-Journal für systemisches Denken und Handeln November 2001: http://www.ibs-networld.de/ferkel/von-foerster-05.shtml am 8.3.2002.  

Foucault, Michel (1992): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main.

National Association of Social Workers - NASW (1996): Code of Ethics. Washington D.C..

Neuberger, Christa (2004): Fallarbeit im Kontext flexibler Hilfen zur Erziehung. Sozialpädagogische Analysen und Perspektiven. Wiesbaden.

 

[1] Natürlich kann man die Inszenierung der KlientInnen-SozialarbetierInnen-Beziehung (das Interaktionssystem KlientIn-HelferIn) auch unter dem Aspekt des Gelingens von Grenzziehungen analysieren. „Übergriffigkeiten“ von beiden Seiten können, wenn ihnen nicht begegnet wird, den Erfolg des Aufbaus einer helfenden Beziehung entscheidend gefährden. Die Arbeit an Rollendefinitionen ist eine methodische Notwendigkeit. Was ich hier kritisiere, ist die einseitige Vorstellung, dass die HelferInnen durch richtige „Abgrenzung“, also ein Zurückweisen der Ansprüche der KlientInnen, schon viel gewonnen hätten.

[2] eigentlich noch schärfer: das Sozialwesen lässt jene Spielräume nicht mehr zu, die die Gesamtgesellschaft sehr wohl offen lässt. Es ist tendenziell totalitär, will die „Betroffenen“ auch noch clean, selbstbestimmt, glücklich, gesund lebend etc. machen. Die Gesellschaft hingegen lässt  Devianz zu, bietet Räume, in denen diese sich entwickeln kann. Das Sozialwesen unterwirft tendenziell jene Personen, die in seinen Einflussbereich kommen, einer Befürsorgung, die die Autonomie in der Wahl ihres Lebensstils einschränkt. Das Mittel ist u.a. die verordnung von Zielen.

[3] Näheres und kritisches zu dieser Art der Zielplanung findet sich bei Possehl (2002).

[4] Christa Neuberger (2004: 177ff.) kommt zu einem ernüchternden Befund über die Einbeziehung von Ressourcen des Sozialraums bei Fällen des ASD in München – und Beobachtungen sprechen dafür, dass das in anderen Städten kaum anders ist.

[5] Bardmann (2001) schreibt von der „Schmuddeligkeit“ der Sozialarbeit, von „Eigenschaftslosigkeit als Eigenschaft“. Er betrachtet ihre Fähigkeit, sich nicht festlegen zu lassen, als Bedingung ihrer Möglichkeiten. Man könnte sagen, Sozialarbeit tut, was sie tun soll, und tut es doch nicht. Versuche, sie dazu zu bringen, dass sie endlich tut, was sie tun soll, würden dann dazu führen, dass sie nicht mehr tun kann, was sie soll. Oder anders: Wenn Sozialarbeit nur mehr Teil der Regierung ist, verschwindet sie als Profession.