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Jugendwohlfahrt neu erfinden? Über die Entwicklungsmöglichkeiten eines Kernsektors der Sozialen Arbeit

erschienen in: Sozialarbeit in Österreich, Nr. 3/2005, S. 7-13

Die Anfrage, einen Beitrag zu einem Schwerpunktheft Jugendwohlfahrt zu leisten, bereitete einerseits Freude, weil ich nach meinen langen Praxisjahren am Wiener Jugendamt der Jugendwohlfahrt immer noch sehr verbunden bin und sie für einen zentralen Bereich der Sozialarbeit halte. Andererseits war der Stress nicht zu verleugnen: Angesichts der in Österreich leider bloß dahindümpelnden Fachdiskussion zum Thema wäre allzuviel anzumerken. Der Beitrag ist denn auch ein Produkt dieser Ambivalenz. Er versucht, wie wohl jeder programmatisch umfassende Artikel, zu viel auf zu wenig Platz zusammenzufassen, worunter die Lesbarkeit leidet. Und er ist trotzdem mit Herzblut geschrieben, was sich in mancherlei polemischen Zuspitzungen unangenehm manifestieren mag. Ich ersuche die LeserInnen, mir das nachzusehen.

Die österreichische Jugendwohlfahrt ist spätestens seit der letzten großen Reform des Jugendwohlfahrtsrechts (1989) in einem kontinuierlichen Prozess der Umgestaltung. Die Bedeutung der freien Träger ist gestiegen, Betreuungsaktivitäten wurden aus den Ämtern ausgelagert, die Organisation an Ziele der Verwaltungsreform angepasst. Diese Wandlungen sind überraschenderweise von bloß dahinplätschernden öffentlichen fachlichen Diskursen begleitet, und glaubt man der eigenen Wahrnehmung und den Berichten von Betroffenen, so bleibt die Performance in vielen Bereichen noch auf einem dürftigen Niveau. Es wäre an der Zeit, Bilanz zu ziehen und den künftigen Weg dieses Kernbereichs von Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu diskutieren.

1. gesellschaftlicher Wandel und Jugendwohlfahrt

Wie in anderen europäischen Ländern ist auch in Österreich der Anteil der Kinder unter 15 Jahren an der Gesamtbevölkerung rückläufig, von 24 % (1971) auf 17 % im Jahr 2000 (vgl. Beham u.a. 2004: 22 ff.). Das soziale und gesellschaftliche Umfeld, in dem Jugendwohlfahrt heute zu agieren hat, ist komplizierter geworden, die Anforderungen sind gestiegen. Objektiv durch die beachtliche kulturelle Diversität, durch die verschiedenen Formen von Armut und die strukturelle Arbeitslosigkeit, durch die kontinuierlich steigende Zahl von Ehescheidungen, durch eine allseits spürbare Verunsicherung, was denn nun ein „richtiger“ Erziehungsstil sei, durch die tendenzielle Überforderung von Eltern und Kindern in einer Welt, die mehr Selbstständigkeit einfordert.

Das politische Gebot, Posten in der Verwaltung eher zu reduzieren als zu vermehren, führt dazu, dass ein Ausbau der Jugendämter zu bevölkerungsnahen demokratischen Dienstleistern, wie er zumindest in einigen Bundesländern in den 1970er- und 1980er-Jahren mit teils ansehnlichen Erfolgen angegangen worden war, nunmehr stockte bzw. unmöglich wurde. In einigen Bundesländern schien die behördliche Jugendwohlfahrt eher zu einem Verschiebebahnhof zu werden, der Fälle an (wenige) Dienstleister mit spezialisierten Problembearbeitungsprogrammen weiterreicht.

Österreich gehört zu jenen Ländern, deren Regierung sich auf ihre Politik der Familienförderung viel einbildet. Diese Förderung konzentriert sich allerdings auf finanzielle Leistungen, die ein längeres Verweilen der Mutter im Haushalt begünstigen. Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft, beratende und praktische Unterstützung bei Versorgung und Erziehung von Kindern und der Bewältigung schwieriger Phasen familiärer Entwicklung bleiben weit hinter den Möglichkeiten zurück. Um Österreich zu einem familienfreundlichen Land zu machen, wäre eine Umleitung der Mittel in mehr und bessere Kinderbetreuungseinrichtungen, in die Vereinbarkeit von Beruf und familiären Pflichten, in ein breit unterstützendes System der Jugendwohlfahrt angezeigt.

2. „Produkte“ anbieten oder eine gesellschaftliche Funktion wahrnehmen

Der Einzug einer pseudomarktwirtschaftlichen Terminologie in den Diskurs über die Jugendwohlfahrt entbehrt zwar nicht einer bestimmten Komik, ob er zu einer Verbesserung des Angebots beiträgt, sei aber bezweifelt. Die Anwendung des „Produkt“-Begriffs im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Verwaltung allgemein und der Jugendwohlfahrt im Besonderen ist problematisch (vgl. dazu z.B. Hubmer 2004: 160 ff.), und das aus mehreren Gründen. Für unseren Zusammenhang mag genügen, auf die seltsame Struktur des Marktes hinzuweisen: Die eigentlichen (und zahlungskräftigen, was für ökonomische Prozesse entscheidend ist) Nachfrager nach den „Produkten“ der Jugendwohlfahrt sind nicht die Kinder und nicht die Eltern, also nicht jene Personen, die qua gesetzlicher Zielbestimmung die Adressaten der Jugendwohlfahrt sind, sondern das ist die behördliche Jugendwohlfahrt in ihrem Verwaltungshandeln selbst. Sie ist gleichzeitig Kunde und Produzent z.B. der „vollen Erziehung“. Die tatsächlich oft reinigenden Wirkungen eines Marktes können so nicht einmal ansatzweise greifen, sondern das marktwirtschaftliche Vokabular erweist sich als bloßes Mittel der Verschleierung von rigide obrigkeitsstaatlichen Denkmustern und Organisationsformen. Das Land als Jugendwohlfahrtsträger macht die Gesetze, die z.B. die „volle Erziehung“ als eine Option des Verwaltungshandelns in der Jugendwohlfahrt definieren, es tritt als einziger zahlungskräftiger Nachfrager auf und diktiert Normen und Preise. Es installiert dezidiert keine Rückmeldungsschleifen, die den Bedürfnissen der „NutzerInnen“ des sogenannnten Produkts – also der Kinder und Eltern – irgendeine Chance geben, sich zu artikulieren. Die Vorzüge des Marktes, nämlich dass die NutzerInnen eines Produkts über ihre Kaufentscheidung dem Hersteller eine ökonomisch relevante Rückmeldung über den Gebrauchswert geben, sind systematisch ausgeschaltet. Gleichzeitig wird eine Diskussion über die heutige gesellschaftliche Funktion behördlichen Handelns in der Jugendwohlfahrt gleich gar nicht geführt.

In Österreich sind Ansätze für ein neues Verständnis der Jugendwohlfahrt als besonderer Aufgabe in einer demokratisch-pluralen (oder, wenn man will: post-postmodernen) Gesellschaft eher dünn gesät, ja selbst der fachliche Diskurs über die professionelle Qualität der Arbeit findet mangels geeigneter Foren fast nicht statt. Punktuelle interessante Projekte bleiben so weitgehend unbekannt und entfalten keine weitergehende Wirkung. Gleichzeitig wird (zum guten Teil vergeblich) viel Kraft in managerialistische „Reformen“ und Umbauten gesteckt.

Eine der bemerkenswerten fachlichen Initiativen der letzten Jahre war wohl die Erstellung eines Qualitätskatalogs der Grazer Jugendwohlfahrt, der sich auf der Höhe der aktuellen Entwicklungen einer klientInnenorientierten Sozialen Arbeit befand. Die Wirksamkeit scheint sich jedoch schon in der Organisation, die viel Kraft in die Formulierung gesteckt hatte, in Grenzen zu halten, die Ausstrahlung über die Grenzen der Stadt Graz hinaus war nahezu nicht bemerkbar. Ein österreichisches Schicksal.

3. Innovationspotenziale

Ich verstehe Jugendwohlfahrt nicht als bloße Verwaltung (obwohl sie natürlich auch Elemente der Verwaltung beinhaltet), sondern als Steuerungsaufgabe in einer pluralen demokratischen Gesellschaft. So verstanden, müsste sie sich geeigneter Mechanismen bedienen: Mitteln der Wissenschaft, der Diskussion, der Partizipation und der informierten politischen Entscheidung. Der Markt hätte einen Platz als Korrektiv und Organisationsform – er könnte erst funktionieren, wenn die AdressatInnen ihn beeinflussen könnten, wenn sie also echte KundInnen wären.

Will man die Innovationspotenziale für die Jugendwohlfahrt ausloten, so zeigt ein Streifzug durch die fachliche Landschaft außerhalb der engen österreichischen Grenzen hochinteressante Möglichkeiten. Einige davon seien hier angedeutet:

Lebenswelt- und Sozialraumorientierung

Beides sind schillernde Begriffe, aber sie stehen für Haltungen, für fachliche und organisatorische Lösungen, die über eine kurzsichtige und bloß am vermeintlichen „Fall“ klebende Sicht hinausweisen. Lebensweltorientierung und Sozialraumorientierung sind Leitideen für die Gestaltung der fallbezogenen Intervention sowie der Inszenierung und Organisation von Hilfe.

Wenn wir versuchen, es kurz (und sicher auch verkürzt) zusammenzufassen, was „Lebensweltorientierung“ meint, so könnte man sie als Achtung vor den natürlichen sozialen Welten bezeichnen, als Achtung vor der notwendig subjektiven Weltsicht und dem notwendig in „natürlichen“ sozialen Umwelten, Mikrokosmen zu organisierenden Alltag der KlientInnen und Zielgruppen. Vorrang hätte dann nicht die Bereitstellung von professionell zugerichteten Ersatzwelten (ich nenne das „Lebensweltsubstitute“), sondern kluges und dosiertes Anknüpfen an Vorhandenes.

Sozialraumorientierung wird beschrieben als Trias von fallspezifischer, fallübergreifender und fallunspezifischer netzwerkbezogener Arbeit. Sozialraumorientierung richtet den Blick zuallererst auf das Netz. Schon bei der Bearbeitung der Fälle wird das Augenmerk auf das soziale Umfeld der Betroffenen gerichtet. Trotz aller Beteuerungen über die angebliche „Ressourcenorientierung“ ist das übrigens keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Wie Budde und Früchtel (2005) beklagen, können SozialarbeiterInnen im Jugendamt bei der Erstellung des Genogramms von betreuten Familien oft nicht einmal mehr die Felder der Großelterngeneration ausfüllen. Aus meinen Erfahrungen in Österreich kann ich diese Beobachtung nur bestätigen. „Family Conference Meetings“ und „Family Group Decision Making“ – beides Formen der Beteiligung der erweiterten Familie am Unterstützungs- und Entscheidungsprozess – sind Beispiele für die erfolgreiche Neuinterpretation der Jugendamtsarbeit (vgl. Brown 2002; Merkel-Holguin 1996).

Fallübergreifend verweisen Lebenswelt- und Sozialraumorientierung auf die Kooperation in der Gemeinde und im Bezirk. In eine Jugendwohlfahrtsplanung wären die lokalen Akteure und die Zivilgesellschaft einzubeziehen. In einem ersten Schritt jene Organisationen, die mit dem gleichen Klientel zu tun haben (Schulen, Kindergärten, Einrichtungen der freien Träger, Jugendzentren etc.), in einem zweiten Schritt auch AkteurInnen, die auf den ersten Blick gar nicht direkte KooperationspartnerInnen der Jugendwohlfahrt wären (Einkaufszentren, Jugendorganisationen, lokale Cliquen, MigrantInnenvereine etc.). Sie alle gestalten die Lebensbedingungen im sozialen Raum – und sie können in unterstützende Aktivitäten eingebunden werden, in ein präventives Klima im Sozialraum.

Die Rolle der SozialarbeiterInnen am Jugendamt wäre dann aber neu zu definieren (oder auszuweiten): Die KollegInnen wären gleichzeitig fallbearbeitend und gemeinwesenbezogen tätig. Es wäre eine Arbeit, ideal geeignet für Personen, die aktiv und verantwortlich in einem demokratischen Gemeinwesen aktiv sein wollen – und das mit einem soliden fachlichen Hintergrund.

Wenn einigen informierten KollegInnen diese Vorschläge gar nicht so neu vorkommen, so haben sie recht. Die Grundhaltung wurde schon in den 1980er-Jahren als „Gemeinwesenorientierung“ beschrieben und punktuell auch gelehrt . Was neu dazugekommen ist, sind Modelle einer sozialraumbezogenen Budgetierung (zu den Erfahrungen vgl. Weißenstein 2004)

Case Management

Case Management hat in den letzten Jahren als Vokabel schon Einzug in die Jugendwohlfahrt gehalten, ein tieferes Verständnis des Konzepts ist aber selten anzutreffen. So wurden z.B. unter der Flagge des Case Managements die Betreuungs- und Beratungsaufgaben der behördlichen Jugendwohlfahrt zurückgefahren und die intensivere Beschäftigung mit den Fällen an Dienstleister delegiert. Während das Konzept des Case Managements erfunden wurde, um die Probleme der Zersplitterung der Fallarbeit und der Spezialisierung der Dienste mit all ihren negativen Folgewirkungen in den Griff zu bekommen, wurde hierzulande in einigen Bereichen die Zersplitterung gefördert und Case Management genannt.


Ein Konzept, bei dem die Behörde zwar alle Fäden in der Hand behält, Fälle aber nicht mehr wirklich bearbeitet, sondern an SpezialistInnen weiterleitet, produziert kostenintensive Verläufe: Je schwieriger sich ein Fall entwickelt, um so mehr wird die Betreuung zersplittert (in sozialpädagogische Familienhilfe, Lernbetreuung, BeratungslehrerInnen, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Schuldnerberatung usw.) und umso weniger Gesamtverantwortung für den Fallverlauf haben die beteiligten SpezialistInnen, die alle „ihr Ding“ machen und den Fall wieder abgeben, wenn er ihnen „zu steil“ wird. Das kostet alles viel Geld, und der Erfolg ist bescheiden.

Case Management ist im Kern ein Konzept der Herstellung einer umfassenden Fallverantwortung, einer Koordination auf Basis eines mit den KlientInnen ausgehandelten Hilfeplans (NASW 1992). Wie die sozialraumorientierte Fallarbeit kümmert es sich besonders um die Einbindung der KlientInnen in die „natürlichen“ sozialen Netze von Familie und Nachbarschaft und bemüht sich, institutionelle Angebote subsidiär, aber präzise auf die Bedürfnisse der KlientInnen zugeschnitten heranzuziehen. Case Management benötigt eine Reihe von organisatorischen Voraussetzungen (die Organisationen müssen „bereit“ und fähig sein für diese anspruchsvolle Art der Kooperation), und es benötigt in Case Management geschulte MitarbeiterInnen.

Offenheit

Schließlich braucht die Jugendwohlfahrt eine Willkommens-Struktur, sollte soweit wie möglich regionalisiert und gemeindenah sein: kurze Wege, leichte Erreichbarkeit, offene Telefonleitungen und Onlineberatungskanäle.

Jugendwohlfahrt ist tendenziell „allzuständig“. Sie ist universelle Ansprechpartnerin für Kinder, Jugendliche, Eltern bei Problemen der Alltagsgestaltung (oder auch: „Lebensführung“ ). Das heißt nicht, dass sie sich bei all ihren KlientInnen um alles kümmern sollte. Auch eine wunderbar funktionierende Jugendwohlfahrt wäre nicht allwissend und könnte schon aufgrund elementarer Bedingungen und Möglichkeitsräume für Interventionen diese Aufgabe nicht erfüllen. Allzuständigkeit, so aufgefasst, wäre dann eine Last, eine heillose Überforderung. Allzuständigkeit, aufgefasst als Möglichkeit und Chance hingegen bedeutet generelle Offenheit dafür, was denn nun als Problem beschrieben wird. Sie bedeutet, Menschen nicht schon nach der Formulierung ihres Problems bzw. ihrer Frage kurz abzufertigen und an Spezialeinrichtungen weiterzuverweisen. Allzuständigkeit heißt, sich grundsätzlich für zuständig zu erklären, heißt, mit Engagement nicht zu warten, bis das Problem so weit eskaliert ist, dass man nicht mehr anders kann, als sich darum zu kümmern .

Die behördliche Jugendwohlfahrt hat eine Stärke, und diese Stärke ist gerade die Behördlichkeit, ist ihre Ausstattung mit Machtmitteln und mit Autorität. Ihr Wort hat Gewicht, aber es muss auch gesagt werden. Selbst viele KlientInnen – sowohl Kinder/Jugendliche als auch Eltern sehen die Autorität des Jugendamtes als Stärke an, und sie erwarten, dass das Amt deutlich spricht. Das wäre auszuspielen, nicht zu verleugnen, gerade auch bei den „kleinen“ Anfragen um Information und Beratung. Das ist der Bereich der Prävention, der den Jugendämtern zufallen würde, wenn sie nur bereit wären, ihn zu nehmen.

Soziale Diagnostik

In kaum einem anderen Handlungsfeld ist die Sozialarbeit so massiv mit der Aufgabe konfrontiert, biografisch weitreichende Entscheidungen für die KlientInnen zu treffen. Deshalb ist es auch ihre professionelle Pflicht, diese Entscheidungen auf eine solide fachliche Basis zu stellen. Über lange Jahre wurden die Instrumente der sozialen Diagnostik gering geachtet – einer Verbesserung der Fachlichkeit von Entscheidungen war das nicht gerade zuträglich. Derzeit gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen zum Thema , die Diagnostik für die behördliche Jugendwohlfahrt ist allerdings noch stark an psychologischen Mustern (oder auch: psychologisierenden Missverständnissen der Jugendamtsaufgaben) orientiert (deutlich bei Harnach-Beck 2000). Es wäre dringend an der Zeit, sich eine sozialarbeiterisch fachlich fundierte und zumindest ansatzweise standardisierte Form der Diagnostik zu überlegen, die sozialarbeiterische Entscheidungen in ihrem Bereich auf ein Niveau heben, das in der Medizin und der Psychologie inzwischen erreicht ist. Hier würden sich meines Erachtens auch Forschungsinvestitionen der Jugendwohlfahrtsträger lohnen.


Obwohl: Diese Aufgabe und die obengenannten können nicht allein von den Trägerinstitutionen bewältigt werden, und wohl auch nicht nur in Österreich. Aufholbedarf gibt es international. Wenn der professionelle Standard der Sozialarbeit in der Jugendwohlfahrt angehoben werden soll, dann bedarf es institutionsübergreifender Foren. Und hier kommen wir zu dem, was ich für das Kernübel der Jugendwohlfahrt in Österreich halte, nämlich die fehlende Diskussion über die Institutionsgrenzen hinweg.

4. Erste Schritte

Was könnten erste Schritte für eine ausständige Neuerfindung (oder zumindest: Reform) der Jugendwohlfahrt sein?

Am leichtesten zu machen sind punktuelle Pilotprojekte. Die hat es bisher schon gegeben, aber es könnten gerne mehr werden. Sozialraumbezogene Jugendwohlfahrtsplanung in einem Bezirk im Diskurs mit den freien Trägern; Family Decision Making als Versuch für ausgewählte Fälle in einem Bundesland; Erprobung des Einsatzes von Instrumenten der Sozialen Diagnostik. Über die Erfahrungen sollte dann aber auch berichtet und diskutiert werden.

Daher scheint es mir am wichtigsten zu sein, dass fachliche Foren der Diskussion geschaffen werden, zum Beispiel eine österreichische Zeitschrift für Jugendwohlfahrt. Für unverzichtbar halte ich einen österreichischen Jugendwohlfahrtstag, an dem zumindest alle 2 Jahre die wesentlichen Akteure (unter Einschluss von VertreterInnen der Kinder- und Jugendarbeit) zusammentreffen, die Situation diskutieren, Projekte und Forschungen vorstellen. Die Verantwortung für eine solche Initiative liegt letztlich bei den Landesjugendämtern. Sie müssten deutlich machen, dass sie über die gesellschaftliche Aufgabe und ihre gemeinsame Bewältigung zu reden bereit sind. Eine FH, die bei der Ausrichtung und der Sicherung der fachlichen Qualität behilflich ist, findet sich sicher.

Aushandeln der Ziele und Wege, das wäre der Weg, um die Jugendwohlfahrtsorganisation in einer pluralen demokratischen Gesellschaft ankommen zu lassen. Ein Aushandeln, das letztlich auch die KlientInnen einzuschließen hätte – der Weg ist lang, wie man sieht, aber er könnte lohnend sein.

Literatur

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