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Überforderte Angehörige

Kommentar anlässlich eines tragischen Mordes und Selbstmordes in Leoben

Eine Mutter vergiftet ihren 36-jährigen Sohn und sich selbst. Wenn man den Mitteilungen der Polizei und den Presseberichten glauben darf, hat sie in Abschiedsbriefen ihre Überforderung deutlich gemacht: Über Jahrzehnte war ihr Leben verknüpft mit dem ihres behinderten Kindes. Ein tragischer Fall, der für eine kurze Zeitspanne sichtbar macht, was sonst unsichtbar bleibt: das Leben mit einem Handicap, aber auch das Leben mit einer nahestehenden Person, die ein Handicap hat.

Die steirische Frau ist eine Ausnahme. Es ist nicht mit einer größeren Zahl so dramatischer Aktionen zu rechnen. Aber – wie so oft – der spektakuläre Einzelfall kann den Blick auf Probleme lenken, die über den Einzelfall weit hinausreichen. Hier ist es die massive Belastung und mangelnde Unterstützung für Angehörige von Personen mit Handicaps.

Ein schwer behindertes Kind zu haben verändert die Lebensperspektive. Selbstverständliche Liebe und Verantwortung, das wird erwartet und das geben die meisten Eltern. Eine Verantwortung, die ungleich mehr Einsatz erfordert als bei einem gesunden Kind, eine Verantwortung, die oft von der Hoffnung getragen ist, das Handicap des Kindes durch zusätzliches Engagement und noch mehr Liebe wettmachen zu können. Allzuoft wird die Verwirklichung eigener Lebenspläne in den Hintergrund gedrängt, das Sorgen für das Kind wird zum eigentlichen Lebensinhalt.

Bei professionellen HelferInnen würde man sagen, eine solche Haltung ist der direkte Weg in das Burn Out. Die völlige Überforderung ist vorgezeichnet. Angehörige werden allerdings nicht nur durch die Öffentlichkeit, sondern auch durch das professionelle Hilfesystem noch bestärkt.

ÄrztInnen, PsychologInnen und andere HelferInnen sind in ihrer Wahrnehmung völlig auf das behinderte Kind – später dann auf den behinderten Erwachsenen – fokussiert. In den Beratungsgesprächen dreht sich alles um die als krank oder behindert identifizierte Person: Die Angehörigen reden nur von ihr, die Ärzte reden nur von ihr, die PsychologInnen testen nur sie.

Die Steiermark hat 2004 ihr Gesetz zur Behindertenhilfe neu gefasst, und sie hat das sehr klug getan. Werden Leistungen nach dem Behindertengesetz beantragt, so soll ein Team aus einer Psychologin und einer Sozialarbeiterin mit ärztlicher Unterstützung die Gesamtsituation einschätzen, die voraussichtliche weitere Entwicklung mit den Betroffenen besprechen und einen Entwicklungsplan erstellen. Das kann dazu führen, dass die AntragstellerInnen mehr an Unterstützung bekommen, als sie beantragt haben. Aber auch dazu, dass die passenderen Hilfen anstelle der voraussichtlich wenig hilfreichen gewährt werden.

Die Einbeziehung von SozialarbeiterInnen in dieses Begutachtungsteam ist m.E. ein Geniestreich. SozialarbeiterInnen sind darauf trainiert, sich das Umfeld genauer anzuschauen und sie kennen ein methodisches Prinzip, nämlich das der Unterstützung der Unterstützer. Sie können Überforderungen des familiären Umfelds erkennen und gezielte Entlastungen vorschlagen.

Die Umsetzung des Gesetzes stockt aber noch. Zu wenige Teams sind im Einsatz, die fachliche Diskussion des Konzepts gehört gefördert, noch liegen Anträge monatelang in Warteposition.

Und schon finden sich Stimmen, die den Geist des Gesetzes nicht verstehen wollen. Sie fordern die Eliminierung der verpflichtenden Teilnahme von SozialarbeiterInnen an der Begutachtung und wollen vage ein „mehrprofessionelles“ Team.

Es bleibt zu hoffen, dass der traurige Leobner Fall die Umsetzung des steirischen Behindertengesetzes beschleunigt – und dass eine verantwortungsvolle Diskussion auch die Unterstützung der Personen im familiären Umfeld bei ihrer eigenen Lebensführung zum Thema macht – auch in anderen Bundesländern. Das Ersetzen von SozialarbeiterInnen durch niedriger oder anders qualifiziertes Fachpersonal ist jedenfalls ein gefährlicher Holzweg.