Der 2020 Krisenblog

Sechzigster Tag

Ich lasse heute Lea Putz-Erath zu Wort kommen. Sie hat mir folgenden Text geschickt:
Objekte_Maschinen_Menschen
„Es scheint so, als ob die Corona-Krise arbeitsrechtliche Missstände aufzeige.“ so sagt die Deutschlandkorrespondentin des ORF am 11.05.2020 in einem Bericht über die starke Ausbreitung von Covid-19 in Quartieren für Schlachthofmitarbeiter:innen in Deutschland.
In einem am gleichen Tag ausgestrahlten Mittagsjournal-Bericht über den Sonderreisezug für Rumänische Pflegekräfte ist von „Betreuerinnen die ausgetauscht werden“ die Rede. Wie weit sind wir schon gekommen? Menschen, die ausgetauscht werden? Von wem werden die Betreuerinnen hier zum Objekt gemacht? Menschen, die seit Jahren das Betreuungssystem für Ältere, Pflegebedürftige in Österreich und anderen Ländern aufrecht erhalten?
Gestehen wir ihnen nicht das Mensch-Sein zu? Sind sie eher eine Ware, ein Produktionsmittel?
Ein anderes Beispiel aus der aktuellen Berichterstattung: Landwirte lassen in Corona-Zeiten Erntehelfer:innen einfliegen. Sinngemäß berichtet der Sprecher der Landwirte, dass die österreichischen Interessierten, die gerne helfen möchten, nicht so einsatzfähig, eingespielt und vielleicht auch leidensfähig sind. Die Teams aus Bulgarien seien sehr eingespielt, haben total viel Übung und können die Ernte (im konkreten Fall der Erdbeeren) super professionell und schnell einbringen. Oder wie ein Bauer in den VN zitiert wird: „Sie kennen die Arbeit, sind robust und bringen Ernteleistungen von zwölf bis 15 kg pro Stunde.“ Wie kann ich mir das dann vorstellen: Gruppen von Erntehelfer:innen, hierarchisch gegliedert, die maschinengleich und ohne Rücksicht auf den individuellen Körper in Rekordtempo unsere Erdbeeren pflücken. Auch hier: kein Subjekt, der einzelne Mensch tritt in den Hintergrund, mir fielen sogar Vergleiche mit Nutztieren ein.
Über die Umstände, unter denen sich in den Quartieren der Fleischindustrie-Arbeiter:innen das Virus so stark ausbreiten konnte, möchte ich mir lieber gar nicht so viele Gedanken machen.
Und bitte, damit ich hier nicht falsch verstanden werde: ich bin in einem kleingewerblich-bäuerlichen Milieu aufgewachsen. Es liegt mir wirklich fern, hier einzelne Menschen, Betriebe oder Branchen zu verurteilen. Es liegt mir auch fern mit dem gehobenen Zeigefinger daherzukommen.
Aber: Wir müssen reden, alle miteinander. Menschen sind Menschen und ich wünsche mir, dass sie, egal in welchem Beruf sie tätig sind, als solche wahrgenommen werden!
Wie wollen wir, dass Menschen leben und arbeiten?
Wie wollen wir, dass Menschen über Menschen sprechen?
Ich erinnere mich an mein Studium zur Sozialarbeiterin als wir lernten, dass z.B. Verwahrloste, Obdachlose nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden, wenn Passant:innen an ihnen vorbeigehen und sie als Objekt im öffentlichen Raum sehen. Es ist Teil meiner beruflichen Identität darauf aufmerksam zu machen, wenn so etwas passiert."
So weit Lea. Im Zuge der Arbeit an meinem nunmehr als Fragment veröffentlichten Roman „Wieder Au“ hatte ich mich ja in das Gedankenexperiment vertieft, dass der vermeintliche Wunschtraum der Rechten, dass die „Ausländer“ aus Wien verschwinden mögen, wahr wird. Je mehr ich mich damit beschäftigte, umso klarer wurde mir, dass das gar nicht deren Utopie ist, sondern es im Gegenteil um die Entrechtung jener geht, die nicht zu den „unseren“ gehören. Sie werden gebraucht, als Arbeitskräfte, aber sie sollen nicht den Status von mit Rechten ausgestatteten Bürger*innen erhalten, sollen zur disponiblen Masse werden, die je nach Bedarf eingesperrt, verschoben werden und die als ein willkommenes permanentes Feindbild dienen kann. Jenes Sprechen über Menschen, die hier arbeiten wollen, das Lea beschreibt, ist noch nicht Ausdruck dieser Ideologie, aber es ist ein Denken, an das sie anknüpfen kann. Die Sprecher*innen meinen das wohl nicht so, sie sprechen ganz einfach aus der Perspektive ihrer Position und Verantwortung, und so ist es nachvollziehbar, wenn es auch bei aufmerksamen Hörer*innen beträchtliches Unbehagen hervorruft. Bedenklich ist die Unsichtbarkeit der anderen Perspektive. Kaum jemand ergänzt oder widerspricht. Die „Ausgetauschten“ hört man nicht, es spricht nicht einmal jemand laut genug für sie. Da geht etwas ab.
Einen schön ambivalenten Satz habe ich heute in einem Sportkommentar gelesen: „zurück zur neuen Normalität“ (Filip Vukoja auf 12termann.at). Tja. Zurück in die Zukunft – oder vorwärts in die Vergangenheit?
Das Foto stammt aus meinem Archiv. Passend?
 
 2025-11-25 um 16.09.26