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Leider keine Profession,
leider keine Wissenschaft?


Anmerkungen zu einer Wunschliste
Replik auf einen Artikel von Reinhold Popp in Sozialarbeit in Österreich 2/2003

Peter Pantucek, im Juli 2003



Reinhold Popps Beitrag im letzten SIÖ lesend, reizte es mich, sofort eine Replik zu schreiben. Ein erster Anlauf dazu misslang jedoch jämmerlich, was mich dazu bewog, meine Motivation noch einmal zu überdenken. Schließlich brachte der Autor doch einige Argumente, denen ich nur zustimmen kann: Wir sind auch an der FH in St. Pölten dazu übergegangen, von „Social Profit Organisationen“ zu sprechen. Der Kritik an der Überbewertung der Staub-Bernasconi´schen Theoriearbeit kann ich mich anschließen. Und der seltsame Glaube, es ginge um das Finden „der“ einen und einzigen Theorie der Sozialarbeit, die ihr dann Aufstieg und Wissenschaftlichkeit sichere, ist wahrlich naiv und verkennt, wie wissenschaftliche Diskussion funktioniert. Und Sozialarbeitsforschung benötigen wir mehr und auf höherem Niveau, keine Frage. Also was bereitete mir dann Unbehagen?

Naja, da missfiel mir der Gestus, dass Sozialarbeit halt leider leider keine ordentliche Profession sei, erst einmal eine Reihe von Hausaufgaben zu machen hätte – die alle erst recht nach Entwicklung „der“ Sozialarbeitstheorie, „der“ Handlungswissenschaft klingen. So, als hätten die letzten hundert Jahre nicht stattgefunden, wären nicht Bibliotheken und viele Zeitschriftenjahrgänge vollgeschrieben worden mit Reflexionen über Sozialarbeit. Zugegeben nicht immer auf höchstem Niveau und nur ein kleiner Teil der AutorInnen wollte ein allumfassendes Theoriegebäude errichten. Auch die von Popp angeführten „Kristallisationspunkte“ sozialarbeiterischer Theoriebildung wurden aus unterschiedlichsten Gesichtspunkten schon behandelt. Popp kennt die Literatur. Wieso also ein Forderungsprogramm formulieren? Dass über diese Fragen weiterhin viel (wissenschaftlich) nachzudenken ist, bestreitet ohnehin niemand. Die lange Liste der „Reflexionsebenen“ ähnelt dann einem Lehrplan für einen Sozialarbeitsstudiengang – und ist wohl auch einer. Auch hier nichts, was frisch erfunden werden müsste.

Erst dann wird´s klarer, worum es Popp zu gehen scheint: Es sei die Pädagogik, die die Sozialarbeit begründe und weiterentwickle. Wem will er das sagen? So als ob Hans Thiersch, Bernd Dewe, C. Wolfgang Müller und andere PädagogInnen, die viel für die Entwicklung der Sozialen Arbeit und der theoretischen Reflexion über sie geleistet haben, nicht geachtet, ihre Beiträge überlesen würden. Als ob, was von außerhalb der Pädagogik komme, nicht erwähnenswert sei. Als ob die anderen Nachbarwissenschaften, wie zum Beispiel die Soziologie, Psychologie usw. nur minder bedeutende Beiträge zum Verständnis der Sozialarbeit geleistet hätten.

Mein Vorschlag: Lassen wir die Kuh auf der Weide. Die wichtigsten praktischen Fragen für die Sozialarbeit sind m.E.,
1) ob sie ihre Arbeit aufgrund eigener Entscheidungen organisieren kann oder den Weisungen anderer, „echter“, Professionen zu folgen hat. Die Praxis zeigt ziemlich deutlich, dass die Eigenständigkeit nötig ist, um das Potenzial der Sozialarbeit zur Geltung zu bringen.
2) ob sie die Kultur anspruchsvollen Nachdenkens und Nachforschens über ihre Aufgaben und ihre Tätigkeit weiterentwickelt. Dafür ist viel zu tun (zum Beispiel eine regere Publikationstätigkeit in Österreich)

Und was die von Popp gewünschte Kanonisierung sozialarbeiterischer Methodik betrifft: Die halte ich schlicht für entbehrlich. Sozialarbeit definiert sich durch Fallbezug, durch den Bezug auf „soziale Probleme“ und durch die Aufgabe der Unterstützung und sozialer Inklusion – und das auf den verschiedenen Handlungsebenen und in den verschiedenen Handlungsfeldern. Die Methoden und Techniken, die sie verwendet, sind vielfältig und „gehören“ ihr nicht. In ihrem Kern steht das Wissen um die Eigendynamik und Eigenproblematik organisierter Hilfsprozesse inklusive deren Beziehungsdynamik. Eine erschöpfende Beschreibung des Arsenals ist weder nötig, noch wäre sie hilfreich. Die pragmatische Offenheit der Sozialarbeit braucht – auch wissenschaftliche und theoretische – Reflexion, aber keine taxativen Aufzählungen.

Zum Abschluss noch ein Einwand, und zwar ein verärgerter: Was bitte soll das sein, eine „theoriegeleitete Praxis“? Neuerdings begegnet uns dieses Wortgespenst öfter. Es gehört zum Arsenal der Defizitfeststeller. Die Praxis sei erst dann was Ordentliches und die Profession eine Profession, wenn die Theorie der Praxis vorschreibe, was sie zu tun habe. Diese Vorstellung verkennt sowohl das Wesen professioneller Praxis, als auch Wesen und Nutzen von Theorien. In Praxis und Wissenschaft herrschen verschiedene Kriterien. Theorien können nützlich sein, aber die Beziehung zwischen Praxis und Theorie ist immer und muss immer eine distanzierte und dialogische sein. Es kann weder die Praxis der Theorie, noch die Theorie der Praxis direkt sagen, was zu tun ist. Was die professionelle Praxis benötigt, ist Zugang zum akkumulierten beruflichen Erfahrungswissen, das von manchen gerne als „vorwissenschaftlich“ denunziert wird. Die Forderung nach „theoriegeleiteter“ Praxis erinnert mich fatal an den Marxismus-Leninismus seligen Angedenkens: Dort war von „wissenschaftlicher Politik“ die Rede – und Schematismus die Folge. Dies lässt mich auch skeptisch sein, wenn von einer angeblich dringend nötigen Handlungstheorie die Rede ist. Sozialarbeiterisches Handeln als fallbezogenes problemlösendes Handeln bearbeitet genau jene sozialen Problemlagen und Konflikte, bei denen die schematische Vorgehensweise politisch initiierter Programme einer schöpferischen situationsbezogenen Interpretation und Realisierung bedarf. Sie ist pragmatisch im besten Sinne – gerade das halte ich für ihre Stärke. Dass dieser Pragmatismus kein naiver, sondern ein informierter sein muss, das sei unbestritten. Aber kein sozialarbeiterisches Handeln wird je gelingen, das durch welche Handlungstheorie auch immer voll determiniert wäre. Es war keineswegs nur vorwissenschaftliche Dummheit, die die Methodikerinnen der „klassischen“ Periode über den Anteil der „Kunst“ in der Praxis der Sozialarbeit diskutieren ließ.

Man könnte auch sagen, dass das Lamento, die Sozialarbeit benötige zu ihrer Professionswerdung dringend eine Handlungstheorie, in gewissem Sinne selbst unwissenschaftlich ist. Es ignoriert nämlich die Erfolgsgeschichte der Sozialarbeit, die Summe der Empirie einer manchmal besser, manchmal schlechter, alles in allem aber offensichtlich funktionierenden und nützlichen sozialarbeiterischen Praxis weltweit. Das soll uns allerdings nicht daran hindern, an den vielen theoretischen und wissenschaftlichen Fragen zu arbeiten, die noch zu klären sind, um Sozialarbeit in einer veränderten Welt als innovative und wirksame Kraft zu positionieren. Es wird sogar vermehrte Anstrengung nötig sein, um die spezifische Qualität der Sozialarbeit gegen die aus dem Umbau des Sozialwesens kommenden Versuche, sie stromlinienförmig zu gestalten, zu bewahren und auszubauen.

Ich nehme an, der von mir sonst sehr geschätzte Kollege Popp hat das alles so nicht gemeint. Meinetwegen also: Schwamm drüber. Und jetzt bauen wir an der Entwicklung von Forschung und Theorie der Sozialen Arbeit in Österreich. PädagogInnen sind gerne eingeladen, mitzubauen. Aber – I´m sorry, die Disziplinentwicklung wird sich nicht (nur) unter dem Dach der Pädagogik abspielen, da bin ich sicher.