---> zum Beitrag von Kathrina McGuire

Vom Nutzen einer Berufsethik

Referat auf einer Veranstaltung des Berufsverbands der BehindertenbetreuerInnen mit dem Titel „Ethische Grundhaltungen und Menschenrechte“ am 21.5.2001 in Wien. (gekürzt erschienen in: BV, die Zeitung des Berufsverbands der BehindertenbetreuerInnen. Ausgabe September 2001, S. 3-7)



In der Ankündigung dieser Veranstaltung wurden einige sehr konkrete Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel: Ist es legitim, dass BewohnerInnen von Wohngemeinschaften keinen Zimmer- und Haustorschlüssel haben? Dürfen BetreuerInnen bestimmen, wann das Essen einzunehmen ist oder wie lange jemand am Abend fortbleiben darf? Dürfen Daten von BewohnerInnen an andere Stellen weitergegeben werden? ich muss Sie warnen: Ich werde Ihnen diese Fragen wahrscheinlich nicht schlüssig beantworten können. Aber ich kann Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, wie wir in der Sozialarbeit ähnlich gelagerte Fragen diskutieren bzw. wie ich derzeit mit Kolleginnen und Kollegen versuche, eine solche Diskussion in der Sozialarbeit breiter zu verankern.

Zuerst werde ich über einige grundlegende ethische Fragen der Hilfe sprechen. Dabei sollte deutlich werden, dass „Hilfe“ nicht so eindeutig mit dem ethisch Guten und Richtigen zu identifizieren ist, wie wir das gerne gewohnheitsmäßig tun. Danach werden wir uns mit der Frage des Risikos beschäftigen müssen und wir werden auf Recht und Regeln zu sprechen kommen, also über den Versuch, das Gute durch Vorschriften zum Normalen zu machen. Und schließlich wird es ums Verhandeln und Aushandeln gehen, um diesen mitunter unbequemen, aber unumgehbaren Weg zum offenen Diskurs und zu dessen Institutionalisierung. Ich hoffe, dass es dann viel zu diskutieren geben wird.

1. Hilfe und Diktat

Jemandem helfen zu wollen, ist eine Anmaßung. Ich spreche nicht von Hilfe im akuten Notfall, sondern von der Hilfe in einer chronifizierten Not. Worin liegt der Unterschied? Der aktuelle Notfall ist ein akutes und vorübergehendes Ereignis. Er macht die Betroffenen auf Unterstützung angewiesen und möglicherweise vorübergehend handlungsunfähig. Die Hilfe zielt auf eine rasche Wiederelangung der Handlungsfähigkeit, auf dass sich das Opfer möglichst bald wieder in sein eigenes Leben einmischen kann. Das Handeln ohne das auch ausdrückliche Einverständnis der Betroffenen legitimiert sich aus allgemeinen Prinzipien der Solidarität und Mitmenschlichkeit - und daraus, dass dadurch keine dauernde Abhängigkeit entsteht (zumindest nicht entstehen muss). Dem Unterstützten steht es offen, nach seiner Errettung wieder über sich selbst zu bestimmen, auch über seine Beziehung zum Retter bzw. zur Retterin.

Anders liegen die Dinge bei längerdauernder Hilfe. Bitte beachten Sie, dass ich das Thema nicht von der Seite der Hilfsbedürftigkeit, sondern von der Seite der Hilfe aufrolle. Hilfe können wir beobachten, Hilfe ist eine Handlung, wenn auch nicht immer in ihrer Hilfefunktion eindeutig. Es gibt Organisationen, die sich der Hilfe verschrieben haben und die standardisierte Hilfsprogramme anbieten. Viele von Ihnen werden in einer solchen Organisation arbeiten.

Hilfsbedürftigkeit hingegen ist nicht direkt beobachtbar. Wir können jemanden als hilfsbedürftig beschreiben, der sagt, dass er nur in Ruhe gelassen werden möchte. Die Hilfsbedürftigkeit von A ist, könnte man dann sagen, eine Ausrede von B, um sich in das Leben von A einmischen zu können.

Oder, noch einmal unangenehmer und komplizierter: Auch wenn A selbst um Hilfe bittet, können wir nicht sicher sein, dass A Hilfe braucht und dass das, worum A bittet, tatsächlich etwas ist, was A nützt („hilft“) und dass es nicht anderes (zum Beispiel „Nicht-Hilfe“) gebe, was für A bessere Optionen öffnen würde.

Wenn Ihnen diese Überlegung jetzt zu abstrakt erscheint, dann denken Sie an die Diskussion um die sogenannte aktive Sterbehilfe, das Töten auf Verlangen. Zu Recht wurde im Zuge der Diskussion von Gegnerinnen und Gegnern einer Legalisierung angemerkt, dass durch die Legalisierung der Tötung auf Verlangen Betroffene dazu gedrängt würden, diese Art von „Hilfe“ zu verlangen. Sie könnten sich in der Zwangslage, in der sie nun einmal sind, veranlasst fühlen, ihre Angehörigen und die Gesellschaft zu entlasten. Vielleicht als Dank für bisher empfangene Fürsorge, vielleicht aber auch aus Verzweiflung über nicht empfangene Hilfe. Hier haben Sie so einen Fall, dass der Wunsch der Betroffenen Hilfe noch lange nicht selbstverständlich legitimiert. Der Wunsch ist nämlich auch nur Ausdruck dessen, wie die Betroffenen ihre Lage wahrnehmen. Und an der Konstituierung dieser Lage sind wir als Helferinnen und Helfer schon immer beteiligt. Wir bauen Umwelten, in denen manchen Menschen nichts anderes übrigzubleiben scheint, als um Hilfe zu bitten.

Ein anderes Beispiel: Sie kennen vielleicht das Buch „Asyle“ von Erving Goffman. Hier geht es um das Leben in totalen Institutionen, vor allem das in psychiatrischen Anstalten. Die Insassen werden von der „normalen“ Welt, in der man sich frei bewegen und über sich selbst entscheiden kann, abgeschnitten. Sie müssen sich einem Regime unterwerfen, in dem ihre Nicht-Normalität der Ausgangs- und Angelpunkt der Organisation ist. Ihrer BürgerInnenrechte entkleidet bleibt ihnen die Anpassung an erlaubte, hier mögliche Wünsche. Im Status der Machtlosigkeit bleiben die kleinen Chancen auf Vergünstigungen, die geduldeten Nischen des Wünschens, oder die letztlich hilflose Rebellion, die immer „unvernünftig“ ist. Sie wird letztlich nur die Notwendigkeit bestätigen, mich in der Anstalt festzuhalten und meine Rechte zu beschneiden. Der Ausweg, „normal“, also nicht hilfsbedürftig zu sein, steht nicht offen.

Die Organisation von Hilfe definiert also die Hilfsbedürftigkeit. Und mit der Notwendigkeit der Hilfe wird die Einschränkung von Rechten gerechtfertigt. Ja, ohne die Einschränkung der Rechte sei effiziente Hilfe gar nicht möglich. Wir bewegen uns hier also in einem Argumentationszirkel, bei dem immer die Einrichtung recht behält.

Beziehen wir das auf die Beispiele, die in der Einladung genannt wurden. Natürlich kann ich sagen, dass es nur zum Besten unseres Schützlings ist, seine Ausgehzeiten streng zu normieren. Wir verhindern damit, dass er sich einem Risiko aussetzt, das für ihn schwer zu kalkulieren scheint. Schützlinge, die sich nicht in ihrem Zimmer einschließen können, sind unserer helfenden Kontrolle stets zugänglich. Und die Weitergabe von Daten erfolgt doch schließlich nur an andere helfende Organisationen, dient also einer Optimierung der gemeinsamen Anstrengungen zum Wohle der Betroffenen.

An dieser Stelle ist es wohl angebracht, etwas über Risiko zu sagen.


2. Freiheit und Risiko

Spitzen wir es einmal zu: Der Versuch, das Risiko zu eliminieren, ist gleichbedeutend mit dem Versuch, die Freiheit zu eliminieren. Oder andersrum: Wenn wir die Rechte der Betroffenen wahren wollen, müssen wir ein Risiko eingehen und müssen ertragen lernen, dass auch unsere Klientinnen und Klienten Risiken eingehen. Diese Risiken sollten natürlich kalkulierbar und so in einer Abwägung der Werte vertretbar sein. Aber Risiko heißt immer, dass auch einmal etwas schief gehen kann.

Klassische Verbotsstrategien, die Freiheitsrechte missachten, gehen oft von einer Fragestellung dieser Form aus: „Wenn aber was passiert, wie kann ich mich dann rechtfertigen, das zugelassen zu haben?“ Das eigentliche Problem scheint nicht zu sein, dass etwas passiert ist, sondern dass ich als sogenannter Verantwortlicher zugestimmt habe, dass sich der Klient bzw. die Klientin in eine Situation begeben hat, die nicht völlig risikofrei ist. Die Lösung für dieses Dilemma ist in aller Regel, dass schon etwas passieren darf, aber ich darf nicht erlaubt haben, dass das Risiko eingegangen wird. Tritt der wenig wahrscheinliche, aber nicht unmögliche Fall des „Unfalls“ ein (eine Verletzung des Klienten zum Beispiel), könnten ICH oder die Organisation „zur Verantwortung gezogen werden“, wie es so schön heißt. Risikoaverse Strategien der Bevormundung finden so ihre Begründung. Im – sicheren – Fall der Verletzung der Freiheitsrechte der KlientInnen ist ebenso sicher, dass ICH nicht zur Verantwortung gezogen werde. Man könnte auch sagen: Risikoaverse Strategien der Regulierung minimieren nicht das Risiko der KlientInnen, sondern das der BetreuerInnen.

Wir müssen die Allgegenwart von Risiko in die Begründung unserer Entscheidungen mit hineinnehmen, um solche Kurzschlüsse zu vermeiden. Die beste Entscheidung ist nicht die, die kein Risiko eingeht, sondern die, die weiß, welches Risiko sie eingeht - und es trotzdem tut, weil gute Gründe, z.B. die Rechte der KlientInnen, dafür sprechen. (Vgl. dazu Wolff 1995, der Entscheidungsbegründungen in der Psychiatrie untersuchte).

Die Einschränkung der Freiheiten der KlientInnen geschieht zuweilen achtlos und gewohnheitsmäßig, gerade bei behinderten Menschen, die ihre vermeintliche Hilfsbedürftigkeit in ihren Körper, ihr Verhalten eingeschrieben zu haben scheinen. Meine Fürsorglichkeit scheint einer expliziten Begründung gar nicht mehr zu bedürfen angesichts der vermeintlichen Offensichtlichkeit ihrer Notwendigkeit. So begründet sich der fürsorglich-autoritäre Eingriff scheinbar von selbst. Eine Anmaßung bleibt er allemal (vgl. dazu Baumann 1995).

3. Regeln und Recht

Zur Begründung von Freiheitseinschränkungen wird mitunter das Recht herangezogen, das, hinreichend selektiv wahrgenommen, diese zu stützen und zu rechtfertigen scheint. Obsorgepflichten und mögliche Haftung dienten schon immer zur Begründung der sogenannten Verantwortung der BetreuerInnen, die größer sei als die Eigenverantwortung der „Objekte“. Mir ist bewusst, dass andererseits das Recht ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, um die Rechte der Klientinnen und Klienten gegen eine üble Praxis durchzusetzen. Dieser juristische Aspekt interessiert mich hier aber weniger als die Alltagspraxis des Sich-berufens auf Regeln und Recht. Eine Praxis also, die mehr durch „Recht haben“ als durch „Recht bekommen“ bestimmt ist, durch Regeln der Gewohnheit stärker als durch juristische Interpretationen, wo Rechtsdurchsetzung durch die Ausnutzung von Machtverhältnissen praktisch vor Ort erfolgt und kaum jemals vor einem unabhängigen Gericht.

Dem will ich – wahrscheinlich naiv – vorerst einige Artikel der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Mittel der Reflexion entgegenhalten.

Artikel 1 (Menschenwürde):
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.


Ich mache darauf aufmerksam, dass hier von allen Menschen die Rede ist, und dass allen Menschen auch vernunftbegabt seien. Ich halte das für eine unzweifelhafte Aufforderung, grundsätzlich mit Menschen den Dialog zu suchen, ihre Vernunft zu suchen. Wir können niemandem – auch keinem geistig Behinderten – die Vernunft von vornherein absprechen und deshalb nur mehr für ihn entscheiden. In meinem Verständnis wäre das eine Verletzung der Menschenwürde.

Artikel 12 (Schutz der Intimsphäre):

Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Ruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Anschläge.

Auch hier möchte ich auf das Generelle dieser Aussage hinweisen. Hier steht „niemand“ – und das heißt meines Erachtens, dass gewohnheitsmäßige Einschränkungen dieser Rechte gegenüber bestimmten Personengruppen ebenfalls als Menschenrechtsverletzungen zu werten wären.

Ich habe diese beiden Artikel der Erklärung der Menschenrechte nicht angeführt, weil ich glaube, dass wir über die spitzfindige Auslegung des Rechts zu „Wahrheit“ oder zum „Wünschenswerten“ kommen. Schließlich bin ich kein Jurist und lese daher auch die Erklärung der Menschenrechte weniger als juristisches, denn als politisches Dokument, noch dazu eines der besten politischen Dokumente, die wir haben. Und ich kann und will nicht glauben, dass nicht gemeint sein soll, was hier steht. Wer Mensch ist, ist vernunftbegabt. Wer Mensch ist, hat Anspruch auf Schutz der Intimsphäre. Wir können das im Detail diskutieren, aber bitte messen wir uns an diesem Anspruch.

Sie als BehindertenbetreuerInnen überlegen, wie ich hörte, eine Diskussion mit dem Ziel der Formulierung eines Ethik-Kodex, also die Entwicklung einer Berufsethik. Die Sozialarbeit als weltweite Profession kennt solche Kodizes. Es gibt den international gültigen der International Federation of Social Work, der übrigens nun völlig neu überarbeitet werden soll. Ich will mich auf den detailliertesten Code of Ethics beziehen, den ich kenne, nämlich den der National Association of Social Work (NASW) der USA.

Doch zuerst sei mir eine Bemerkung zur Rolle von Ethikcodes gestattet. Sie sind m.E. nicht ausschließlich erfreulich, sondern haben auch ihre Haken:
Bei Berufen, die ohnehin ständig damit beschäftigt sind, sogenanntes Gutes zu tun, sind Ethikcodes immer auch Legitimationspapiere. Sie verdoppeln die Illusionen des Berufs über sich selbst. Die Sozialarbeit verfolgt natürlich, liest man ihren Ethikcode, die hehrsten und schönsten Ziele. So weit sind die Codes schwülstig wie die Firmenphilosophien eines beliebigen Multis.
Aber die Codes sind bei einer echten Profession auch Basis für Gerichtsbarkeit innerhalb des Verbandes. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Verband über das Recht auf die Ausübung der Profession zumindest mitentscheiden darf. Insofern können sie natürlich qualitätssichernd wirken.
Auch wenn eine solche Art von Qualitätssicherung nicht sehr wirkungsvoll ist. Sanktionen sind nämlich notwendigerweise eher selten und werden nur bei sehr groben Verstößen gegen die Berufsethik verhängt. Die fallweise Bestrafung von einzelnen exkulpiert aber bekanntlich alle anderen. So besehen wäre ein Ethikcode verbunden mit einer Verbandsgerichtsbarkeit also eher ein Mittel zur Weißwaschung der Profession.

Aber so zynisch sollten wir Ethikcodes nicht einschätzen. Sind sie konkret genug formuliert, können sie eine sehr gute Richtschnur abgeben. Der von mir bereits erwähnte Code of Ethics der National Association of Social Work gewinnt seine Konkretheit offensichtlich durch den großen Einfluss einer konsumentInnenfreundlichen Rechtsprechung in den USA.

Hier einige Beispiele:

1.02 Selbstbestimmung
SA respektieren und fördern das Recht der Klienten auf Selbstbestimmung und unterstützen Klienten bei ihren Bemühungen, ihre Ziele zu erkennen und zu klären. SA können das Recht der Klienten auf Selbstbestimmung begrenzen, wenn, nach dem professionellen Urteil des Sozialarbeiters, die Handlungen der Klienten oder ihre möglichen Handlungen ein ernstes, voraussehbares und unmittelbares Risiko für sie selbst oder für andere darstellen.

1.03 Informierte Zustimmung
(a) Sozialarbeiter sollen ihre Dienste Klienten nur im Kontext einer professionellen Beziehung anbieten, die, soweit möglich, auf einer informierten Zustimmung beruht. Sozialarbeiter sollen die Klienten in einer klaren, verständlichen Sprache informieren über: den Zweck der Einrichtung; die Risken, die mit deren Nutzung verbunden sind; die Grenzen der Einrichtung, die sich aus den Anforderungen von Dritten (Geldgebern) ergeben; über relevante Kosten; über sinnvolle Alternativen; die Rechte der Klienten, die Zustimmung zu verweigern oder wieder zurückzunehmen; die Zeitspanne, auf die sich die Zustimmung bezieht. Sozialarbeiter sollen den Klienten Gelegenheit zu Fragen geben.
(b) Sind die Klienten Analphabeten oder haben sie Schwierigkeiten, sich in gebräuchlichen Sprache der Einrichtung zu verständigen, haben sich die Sozialarbeiter darum zu bemühen, daß die Klienten ausreichend verstehen. Das kann durch eine eingehende mündliche Erläuterung geschehen oder durch die Einbeziehung eines qualifizierten Übersetzers.
(c) Sind die Klienten nicht in der Lage, eine informierte Zustimmung zu geben, sollen Sozialarbeiter die Interessen der Klienten schützen, indem sie die Zustimmung einer dritten Person einholen und die Klienten entsprechend ihrer Fähigkeiten, zu verstehen, dennoch informieren. In solchen Fällen sollen sich die Sozialarbeiter vergewissern, daß die dritte Person in einer Weise handelt, die mit den Interessen und Wünschen der Klienten im Einklang steht. Sozialarbeiter sollen entsprechende Maßnahmen setzen, die die Fähigkeiten des Klienten verbessern, um eine informierte Zustimmung zu erreichen.
(d) In Fällen, in denen Klienten unfreiwillige Betreuung erhalten, sollen Sozialarbeiter Informationen über die Art und das Ausmaß der Betreuung geben, sowie über die Möglichkeiten der Klienten, diese Betreuung zurückzuweisen.
(…)

Sie sehen, dass die Informationspflichten hier sehr genau genommen werden. In unserem Zusammenhang sind auch die Bestimmungen zum Recht auf Privatheit und Vertraulichkeit interessant:

1.07 Privatheit und Vertraulichkeit
(a) Sozialarbeiter sollen das Recht der Klienten auf Privatheit respektieren. Sozialarbeiter sollen persönliche Informationen von Klienten nicht nutzen, außer es ist unerläßlich zur Sicherung der Betreuung, zur Durchführung von Evaluation oder zur Forschung. Sobald eine persönliche Information gegeben wurde, sind Vertraulichkeitsstandards anzuwenden.
(b) Sozialarbeiter können vertrauliche Informationen weitergeben, wenn es eine gültige Zustimmung des Klienten oder einer rechtlich dazu legitimierten Person gibt.
(c) Sozialarbeiter sollen die Vertraulichkeit jeder Information schützen, die in einer professionellen Einrichtung erworben wurde, ausgenommen zwingende professionelle Gründe sprechen dagegen. Die generelle Erwartung ist, daß Sozialarbeiter Informationen vertraulich behandeln, außer wenn die Veröffentlichung notwendig ist um schweren, vorhersehbaren und drohenden Schaden für einen Klienten oder eine andere benennbare Person zu verhindern oder wenn das Gesetz oder Vorschriften die Veröffentlichung auch ohne Zustimmung des Klienten vorschreiben. Auf jeden Fall sollten Sozialarbeiter nur die geringst notwendige Informationsmenge preisgeben, um den gewünschten Effekt zu erzielen; es soll nur die Information, die direkt mit dem Zweck, für den die Veröffentlichung nötig ist, zu tun hat, gegeben werden.
(…)
(e) Sozialarbeiter sollen mit ihren Klienten und anderen interessierten Personen die Frage der Vertraulichkeit und die Grenzen der Rechte des Klienten auf Vertraulichkeit diskutieren. Sozialarbeiter sollen unter Bedachtnahme auf die Situation der Klienten überdenken, wo ev . vertrauliche Information benötigt werden könnte und wo die Veröffentlichung dieser Information rechtlich vorgeschrieben werden könnte. Diese Diskussion sollte sobald als möglich in der Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klient stattfinden und wenn nötig während der Beziehung weitergeführt werden.
(f) Wenn Sozialarbeiter Familien, Paaren, Gruppen Beratung anbieten, sollen sie von den beteiligten Personen die Zustimmung einholen, das Recht jedes einzelnen auf Vertraulichkeit zu respektieren und die Vertraulichkeit von Informationen zu bewahren, die von den anderen mitgeteilt werden. Sozialarbeiter sollen die Teilnehmer einer Familien-, Paar- oder Gruppenberatung informieren, daß sie nicht garantieren können, daß sich alle Teilnehmer an die Vereinbarung halten werden.
(…)
(h) Sozialarbeiter sollen vertrauliche Informationen nicht an Dritte weitergeben, solange die Klienten einer solchen Freigabe nicht zugestimmt haben.
(i) Sozialarbeiter sollen in keiner Situation vertrauliche Informationen diskutieren, wenn die Privatheit nicht garantiert werden kann. Sozialarbeiter sollen vertrauliche Informationen nicht in öffentlichen oder halb-öffentlichen Räumen wie z.B. Gängen, Warteräumen, Aufzügen oder Restaurants diskutieren.
(…)

Und so weiter, bis zum Absatz (r). Die weitgehend freizügige und gedankenlose Weitergabe von personenbezogenen Daten und Informationen zwischen Betreuungseinrichtungen (und nicht nur zwischen ihnen) ist in Österreich leider üblich. Diese Praxis wäre im Lichte dieses Ethik-Codes jedenfalls zu überprüfen.

Im Zusammenhang mit Ihrem Beruf ist wahrscheinlich noch der folgende Paragraph interessant:

1.14 Klienten, die nur mangelhaft Entscheidungen treffen können
Wenn Sozialarbeiter anstelle von Klienten handeln, die nur mangelhaft Entscheidungen treffen können, müssen sie entsprechende Schritte setzen, um die Interessen und Rechte dieser Klienten zu schützen.


Sie können wohl selbst einschätzen, wie hilfreich diese etwas lapidare Formulierung ist.

Bei all den Mängeln, die Ethik-Kodizes haben, scheint mir aber die Diskussion über die Wertebasis des Berufs und die Möglichkeiten der konkreten Umsetzung dieser Werte als sinnvoll sowohl für eine weitere Professionalisierung, als auch für die Qualitätsentwicklung. Bei Berufen, deren VertreterInnen in der Regel nicht freischaffend, sondern als unselbstständig Beschäftigte in Organisationen tätig sind, kann diese Diskussion allerdings nicht nur innerhalb der Berufsgruppe geführt werden. Soll sie wirksam werden, muss sie in und mit den Organisationen, muss sie in öffentlichen Foren geführt werden.


4. Diskurs und Streit

Das ist es, was ich Ihnen empfehlen kann: Diskurs und Streit.

Führen Sie die offene Diskussion auch über Ihre eigenen Fehler, über „bad practice“ in der Berufsgruppe. Natürlich ist die Thematisierung eigener Fehler angstbesetzt. Es ist aber gut, die Angst vor gegenseitiger Kritik zu überwinden. Eine selbstkritische Berufsgruppe ist viel stärker und durchschlagskräftiger, als eine ängstliche. Die Diskussion über einen Ethik-Kodex könnte als Aufhänger für eine solche selbstkritische Diskussion dienen.

Letztlich wäre eine Institutionalisierung von KlientInnenrechten und deren Einforderung hilfreich. So etwas wie ein KonsumentInnenschutzverein für Ihre KlientInnen wäre ein wichtiger Dialog- und Bündnispartner. Allerdings nicht immer ein angenehmer, das gebe ich zu.

Und bis dahin? Bis dahin sollte es wenigstens ein schlechtes Gewissen geben bei Freiheitsbeschränkungen und bei Verletzungen der Intimsphäre von KlientInnen. Und dieses schlechte Gewissen sollte sich artikulieren, sollte laut werden und laut sein. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei.


Literatur:

Baumann, Zygmunt (1995): Postmoderne Ethik. Hamburg.

Goffman, Erving (1972): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt/M..

Pantucek, Peter / Vyslouzil, Monika (1999): Die moralische Profession. Menschenrechte und Ethik in der Sozialarbeit. St.Pölten.

Wolff, Stephan (1995): Text und Schuld. Die Rhetorik psychiatrischer Gerichtsgutachten. Berlin.