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Ilse Arlt: welches Erbe?

Erstellt am Donnerstag, 03. Juni 2010 21:32

Peter Pantucek für Sozialarbeit in Österreich, Juni 2010

Ilse Arlt

das Erbe des 20. Jahrhunderts

Es sind nun bald hundert Jahre vergangen, seit Ilse Arlt in Wien Österreichs erste Ausbildungseinrichtung für Soziale Arbeit gegründet hat, ihre Fachkurse für Volkspflege. Hundert Jahre, in denen damals kaum vorstellbare Katastrophen über Österreich und Europa hereingebrochen sind. Der erste Weltkrieg mit seinen Millionen Toten, zumindest mitverschuldet durch die österreichisch-ungarische Monarchie, dann das Elend der Weltwirtschaftskrise, das den Aufstieg eines menschenverachtenden Regimes ermöglichte; die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus mit der planmäßigen Ermordung von Millionen Juden, Roma, Sinti, Homosexuellen, sogenannten Asozialen und politisch Andersdenkenden; die teils stillschweigende, teils aktive Duldung dieses Regimes durch breite Teile der Bevölkerung Österreichs und Deutschlands; der zweite Weltkrieg mit seinen umfassenden Zerstörungen und xx Millionen Toten; der sogenannte „kalte Krieg“ mit seinem atomaren Wettrüsten der Supermächte; die gesellschaftlichen und ökonomischen Verwüstungen, die kommunistische Regimes in Mittel- und Osteuropa angerichtet haben. 1989 schien mit dem Kollaps dieser Regimes und dem demokratischen Aufbruch das desaströse Jahrhundert seinem Ende entgegen zu gehen. Doch in den 1990er-Jahren kam zumindest im Westbalkan der nationalistische Schrecken noch einmal zurück – mit „ethnischen Säuberungen“ und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Das 20. Jahrhundert ist Vergangenheit, aber es ist wirkmächtig in den Traumata vieler noch lebender Älterer, die Traumatisierung der Eltern und Großeltern pflanzt sich, abgeschwächt, verwandelt, über Generationen fort.

Gleichzeitig brachte das 20. Jahrhundert einen beispiellosen Fortschritt von Wissen, Technik, Medizin, Produktivität. Die Lebenserwartung der Menschen, der Lebensstandard, das Bildungsniveau, die persönliche Freiheit sind deutlich höher, als sie vor hundert Jahren waren. Und, insgesamt gesehen wohl nur eine Randnotiz, die Profession Soziale Arbeit hat sich in diesen hundert Jahren entwickelt und eine feste Rolle im gesellschaftlichen Gefüge gefunden.

Wir tragen am Erbe dieses 20. Jahrhunderts. Es ist ein Erbe, das wir nicht ablehnen, nicht verweigern können. Es ist uns vorausgesetzt, wir nutzen die Chancen, die es uns bietet, und wir tragen an den Folgen der Traumata unserer Eltern und Großeltern.

 

Wahlverwandtschaft

In der Konstruktion unseres Selbstverständnisses, unserer Identität, haben wir aber gewisse Freiheiten. Wir können uns zwar nicht die Welt, in der wir leben müssen, nicht unsere Vorfahren aussuchen, sehr wohl aber, an welche Traditionen wir anknüpfen wollen, an welche nicht. Unsere geistigen, intellektuellen, spirituellen Vorfahren sind Wahlverwandte. Es liegen intellektuelle Hinterlassenschaften bereit, wir können aus einem reichen Fundus wählen. Und im günstigen Fall wird uns die Wahl helfen, uns in dieser Welt zu verorten; sie wird deutlicher machen, was uns ein Anliegen ist, wie wir die Welt verstehen und was wir in dieser Welt wollen.

Das Team der Studiengänge Soziale Arbeit an der FH St. Pölten hat sich vor einigen Jahren für eine Wahlverwandtschaft mit Ilse Arlt entschieden. Zu diesem Zeitpunkt war unser Wissen über Ilse Arlt gering. Zur Entscheidung, unserem Forschungsinstitut den Namen von Ilse Arlt zu geben, hat wesentlich beigetragen, dass sie Österreicherin und dass sie Sozialarbeiterin war (auch wenn sie das noch „Volkspflege“, später „Fürsorge“ nannte). Wir wollten eine historische und eine wissenschaftliche Positionierung. Welche andere historische Persönlichkeit hätte sich da in Österreich angeboten?

Unserer Entscheidung kam entgegen, dass das Erbe von Ilse Arlt ein sträflich vernachlässigtes Erbe war. Ihr Name war bekannt, einen Text von ihr hatte kaum jemand gelesen. Nur vereinzelt wurde auf ihre Leistungen hingewiesen. Hier sind vor allem Maria Simon und Werner Steinhauser zu nennen. Sich mit Ilse Arlt, ihren Schriften und ihrem relativ spärlichen Nachlass zu beschäftigen, lag nahe. Es war hoch an der Zeit, die nötige Aufarbeitung zu beginnen. Pragmatisch gesehen: die Aufgabe schien überschaubar.

 

Arlt als Außenseiterin

Ilse Arlts Ansätze und Gedanken wurden kaum wirkmächtig. Während die Wiener Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit die Fürsorge in einen sozialdemokratischen Rahmen der Volkserziehung stellte, blieben die Arlt´schen Überlegungen eine Randnotiz. August Aichhorn gestaltete in Oberhollabrunn seine legendären Experimente in der Betreuung von „verwahrlosten“ Jugendlichen, er konzipierte die Einrichtung von Erziehungsberatungen. Die Fürsorgerinnen waren im Dienste der Volksgesundheit unterwegs und ergänzten die Wohnbaupolitik des roten Wien mit der Kontrolle sozial schwacher Haushalte.

Arlt war weder dem Mainstream der Sozialdemokratie in der Fürsorgepolitik zuzuordnen, noch rezipierte sie erkennbar die Tiefenpsychologie Sigmund Freuds. Für die Sozialpolitik war sie zu wenig ideologisch, zu sehr verteidigte sie die Individualisierung als Grundprinzip wirksamer Hilfe, dachte konsequent sozialökonomisch und beharrte auf kritischer Wissenschaftlichkeit, auf Faktenbasierung bei der Einschätzung von Hilfsmaßnahmen und deren Wirkungen. Wenn es um die KlientInnen geht, dann findet sich keine Spur von erzieherischem Pathos in ihren Schriften. Gleichzeitig verweigerte sie sich der Psychologisierung von Armut und Not, wie sie auch nicht auf die Idee kam, den Hilfeprozess psychologisierend zu betrachten.

An Ilse Arlt fallen nicht nur ihre Leistungen auf, sondern auch das, was sie – aus heutiger Sicht – möglicherweise versäumt hat. So sehr sie in ihren Überlegungen ein Kind ihrer Zeit war (was ja nicht verwundert), so sehr fällt auf, dass sie einige große und wirkmächtige Strömungen ihrer Zeit schlichtweg ignorierte, und dass sie keine Heldin war.

Sich ausgerechnet auf Ilse Arlt zu beziehen, wie es das Institut für Soziale Inklusionsforschung an der FH St. Pölten tut, bedarf also einer Begründung. Von selbst versteht sich das nicht. Ilse Arlt war nicht so bedeutend für die Entwicklung der österreichischen Fürsorgelandschaft und das Denken über Soziale Arbeit in Österreich. Sie war eine Außenseiterin, trotz ihrer Pionierfunktion (schließlich war sie es, die die erste Fürsorgeschule in Österreich gegründet hatte).

Das Erbe von Ilse Arlt antreten zu wollen, das ist eine Entscheidung gegen den Mainstream, ist eine Entscheidung für eine qualitätvolle Außenseiterposition. Es ist eine Entscheidung dagegen, alle aktuellen Strömungen rezipieren und integrieren, ihnen folgen zu wollen. Es ist eine Entscheidung gegen Psychologisierung und gegen die Einordnung in ideologische Mainstreams.

 

Wählen aus dem Erbe

Ilse Arlt hat einiges zu bieten. Sie hat nur wenige ihrer Gedankenlinien systematisch ausgearbeitet, vieles blieb bruchstückhaft. Meine Kollegin Maria Maiss arbeitet derzeit an einer Gesamtausgabe der Schriften von Ilse Arlt, diese wird in vier teils schmalen Bänden Platz finden. Trotzdem (oder gerade deswegen?) sind viele der manchmal nur angedeuteten Ideen inspirierend, regen zu originellen Zugängen an.

Sylvia Staub-Bernasconi hat sich vor allem für die Bedürfnistheorie interessiert, auch Maria Maiss ist davon fasziniert und verweist darauf, dass Arlts Theorie bereits wesentliche Elemente der heute zunehmend rezipierten Bedürfniskonzepte des Wirtschafts-Nobelpreisträgers Amartya Sen (2002) und von Martha Nussbaum (2000) enthält.

Wer bei allem Respekt vor Arlts erfrischend grundlegend gedachter Bedürfnistheorie doch Vorbehalte gegen Bedürfnislisten hat (ich gehöre dazu), kann trotzdem bei ihr fündig werden. Ihre illusionslose Herangehensweise an Institutionen der Hilfe und ihre Vorliebe für originelle Ansätze können vorbildhaft sein.

Arlt plädiert in einem für sorgfältige Forschung, für Theoriebildung (was sie beides leidenschaftlich betrieb) und für Individualisierung der Hilfe. Die Spezialisierung der Hilfe nach der „Notform“ (Arlt 1921:27) sei jedenfalls unangemessen. Stets müsse es den Gesamtblick auf die Person geben.

Es ließen sich noch viele andere Elemente anführen, z.B. ihr Interesse dafür, wie Menschen schwierige Lebenssituationen meistern – ein wesentliches Element ihres Forschungsprogramms. An Originalität lässt sie jedenfalls viele spätere AutorInnen weit hinter sich.

Ihre Schriften zu durchforsten, daraus Anregungen zu beziehen, das ist jedenfalls angeraten. Keineswegs ist die Beschäftigung mit ihr nur historisch interessant. Ihre Einwürfe wirken auch heute originell und anregend. „Ilse Arlt gehört auf die Tagesordnung der Sozialen Arbeit“, stellt Hunold (2009:244) resümierend fest. Und es bleibt verwunderlich, ja beschämend, dass ihre Schriften über Jahrzehnte nicht einmal in ihrer österreichischen Heimat gelesen wurden.

 

Arlt in ihrer Zeit und heute

Wenn wir in ihren Texten kaum Kommentare zu den während ihres Lebens stattfindenden gesellschaftlichen Katastrophen finden, so irritiert das auf den ersten Blick. Sie war auf ihre Sache konzentriert, auf ihre Schule, auf die Grundlegung einer Fürsorgewissenschaft. Dass die beiden Weltkriege und die zivilisationszerstörende Kraft des Nationalsozialismus unzählige BewohnerInnen Europas über Jahre auf basale Fragen des Überlebens zurückgeworfen haben, dass Millionen darin ihr Leben verloren haben, mag ihren Blick auf grundlegende Fragen der Subsistenz geschärft haben. Spürbar ist das in ihrer Bedürfnistheorie. Als Bedürfnisse (Arlt 1958:67) fasst sie Ernährung, Wohnung, Kleidung, Luft, Licht, Wärme, Wasser, Körperpflege, Erziehung, Geistespflege, Familienleben, Rechtsschutz, Erholung, Unfallverhütung und Erste Hilfe, ärztliche Hilfe und Krankenpflege, Ausbildung zu wirtschaftlicher Tüchtigkeit. Forschung solle zu einer Präzisierung beitragen. Forschung zu den „… Normalforderungen, dann möglichst viele der unendlich zahlreichen Variationen üblicher Problemlösungen, dann die Vielheit der häufigen Mängel.“ (ebd.)

Wie konkret sie das fassen will, liest man 2 Seiten später. Nachdem sie bedürfnisgerechtes Wohnen beschrieben hat, geht sie auf häufige Mängel ein: „… feuchte Wohnungen, nordseitig gelegene, für die Familiengröße viel zu kleine, unzulänglich gegen Wetter geschützte, wie überhitzte Dachwohnungen, solche unter undichtem Dach, feuchte Kellerwohnungen, die bei starken Regengüssen überschwemmt werden, Wohnungen ohne Rauchabzug, daher ohne richtige Kochgelegenheit, Magazine, Garagen, Backöfen, Ställe als Wohnungen verwendet, seit den Weltkriegen auch ausgebombte, teilweise ihrer Mauer beraubte Unterkünfte, lichtlose, nach engen Höfen zu liegende Räume, mit unerträglichen Gerüchen belastete, in lärmenden Straßen oder gegen Fabriken gelegene, oder dem Lärm einer zu zahlreichen Nachbarschaft ausgesetzte Wohnungen, endlich solche ohne Wasserversorgung, ohne Closette, ohne Möglichkeit der Abfallbeseitigung. Wohnungen fernab von Arbeitsplätzen und Schulen, von gebahnten Wegen und von ärztlicher Hilfe, Wohnungen, in denen lärmendes Handwerk oder staubende Heimarbeit betrieben wird, von Ratten, Mäusen, Kakerlaken usw. heimgesuchte Wohnstätten oder solche mit Wänden, die von Bettwanzen, Läusen, Flöhen belebt sind. Auch zu große, daher nicht heizbare Wohnungen kommen vor. Viele Wände und Fußböden sind nicht putzbar, Fenster und Türen schließen schlecht, indirekt belichtete, daher auch schlecht lüftbare Wohnungen gibt es und solche in einem Bauzustand, der auch die persönliche Reinlichkeit erschwert.“ (Arlt 1958:69)

Nirgendwo tauchen bei der Lektüre ihrer Texte Zweifel an der humanistischen Haltung von Ilse Arlt auf. In Zeiten, in denen Rassismus und seltsamste sozialdarwinistische Vorstellungen zum Mainstream auch der Wissenschaften gehörten, hat sie so geschrieben, dass man selbst heute kaum jemals ob ihrer Wortwahl irritiert sein müsste.

Die Schriften von Ilse Arlt als Erbe anzunehmen, kann nur empfohlen werden. Nun sollte die Aneignung und Verwertung dieses Erbes durch die Soziale Arbeit beginnen: Die Lektüre und die Aufnahme ihrer Impulse. Die Wiederveröffentlichung der Texte ist auf dem Weg, dann sollte es keine Hindernisse mehr geben, und 2012 werden wir den 100. Jahrestag der Gründung der „Vereinigten Fachkurse für Volkspflege“ feiern können, und werden auch wissen, was wir da feiern.

Joachim Gauck, evangelischer Pastor in der DDR, später erster Leiter der deutschen Behörde, die die Stasi-Akten sammelte und kontrolliert zugänglich machte, sagte in einem Interview: „Es gibt sehr viele richtige Leben im Falschen. Dies erfahren zu haben, eint sehr viele Menschen in Situationen, wo es weltlich gesprochen `nichts brachte´, dass sie ihren Werten, ihrem Glauben oder – andere Sphäre – ihrer Kunst treu blieben. Dass sie sich als bildender Künstler ihre Sicht auf die Welt, als Komponist ihre Töne nicht nehmen ließen. Mögen andere ihre Stalin-Kantaten kompnieren oder sich sonst wie verkaufen: Sie taten es nicht. Dieser Rückbezug auf einen eigenen Kern kann unter Umständen ansteckend wirken.“

Ilse Arlt verfolgte ihr Lebensthema mit erstaunlicher Beharrlichkeit und inspirierenden Ergebnissen. Lassen wir uns von ihr anstecken.

 

Literatur:

 

Arlt, Ilse (1921): Grundlagen der Fürsorge. Wien.

Gauck, Joachim (2010): Es gibt ein richtiges Leben im falschen. Interview. Neue Zürcher Zeitung v. 22.5.2010, Printausgabe.

Hunold, Martin (2009): “Wege zu einer Fürsorgewissenschaft: zum Werk von Ilse Arlt,” Soziale Passagen Jgg. 1, S. 241-249.

Maiss, Maria / Pantucek, Peter (2009): Theory with Passion: Ilse Arlt and Current Questions in Social Work.. In: Leskosek, Vesna (ed.): Theories and Methods of Social Work. Exploring different Perspectives. Ljubljana. S. 45-59.

Nussbaum, Martha (2000): Gerechtigkeit oder Das gute Leben, 1. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Pantucek, Peter (2009): Institutionskritik, Individualisierung, Gesellschaft. Ilse Arlts Denken als Anregung. In: Pantucek, Peter / Maiss, Maria (Hg.): Die Aktualität des Denkens von Ilse Arlt. Wiesbaden. S. 47-60.

Pantucek, Peter / Maiss, Maria (Hg.) (2009): Die Aktualität des Denkens von Ilse Arlt. Wiesbaden.

Schilder, Elisabeth / Simon, Maria (1971): Die Lage der Sozialarbeit in Österreich. Forschungsbericht. Wien.

Sen, Amartya (2002): Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München/Wien.

Simon, Maria Dorothea (1995): Von Akademie zu Akademie. Zur historischen Entwicklung der Sozialarbeiterausbildung am Beispiel der Schule der Stadt Wien. In: Wilfing, Heinz(Hg.): Konturen der Sozialarbeit. Wien. S. 15-24.

Simon, Maria Dorothea (2004): Von der Fürsorge zur Sozialarbeit. Vortrag vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 2. Oktober 2004. In: www.sozialearbeit.at (5.4.2006). Wien.

Staub-Bernasconi, Silvia (1996): Lebensfreude dank einer wissenschaftlichen Bedürfniskunde?!Aktualität und Brisanz einer fast vergessenen Theoretikerin Sozialer Arbeit: Ilse Arlt (1876-1960). In: Manuskript, teilveröffentlicht in: Sozialarbeit H.3. S. 18 - 31.

Steinhauser, Werner (1992): Geschichte der Sozialarbeitsausbildung. Wien.