Soziales Kapital?

Danke für die Intervention (Meinrad Winge)

Liebe Manu,

danke für deine Intervention (muss man schon fast sagen), die für mich gleich im ersten Lesen spannende Momente auftut. Ich bin grade von einem 3-Tagesseminar zurückgekehrt und mir geht’s wie dir – es fehlt an Zeit für diese Debatte. Drum antworte ich jetzt lieber rasch eher ins Unreine mit ein paar Anmerkungen – als längere Zeit gar nicht.

Ich teile ganz deine Meinung zu den grundsätzlichen Fragen von Begriffen und Wesenheiten (1. Seite): Ein Begriff macht etwas nicht zur Wesenheit, mit Raum-Begriffen handelt man sich diesen Substanzialismus-Verdacht zwar leicht ein, aber das wäre eine Verkennung, ein Missverständnis, das brauch ich nicht wiederholen, das skizzierst du schlüssig. Schließlich sind „Ressource“ (Bodenschatz? Vorrat?) und auch andere von mir gern verwendete Begriffe mindestens so räumlich und „wesenhaft“ (und auch ökonomisch!) wie der Begriff des Kapitals (dessen Raumlosigkeit oder zumindest Überräumlichkeit Marx ja gerade eindrucksvoll beschwört). Da liegt also nicht der strittige Punkt.

 

Auseinander geht’s zwischen uns beiden wahrscheinlich erst dort (Seite 2), wo du fragst, warum Kapital denn nur rein ökonomische Ausstattung sein soll; und den Begriff des kulturellen Kapitals als Möglichkeit bezeichnest, Herrschaft messbar/fassbar zu machen. Denn: Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen ökonomischer und kultureller/sozialer „Ausstattung“. Während ein Bankguthaben in einer bestimmten Höhe (oder eben Schulden) eindeutig ein Plus (oder Minus) am Konto darstellen, mich daher eindeutig reicher/mächtiger (oder das Gegenteil) machen, schillert der „Sinn“, den Beziehungen, Umgangsformen, Denkweisen etc. machen, zwischen (ich weiß, das hab ich jetzt schon zweimal geschrieben, aber du bist darauf noch nicht eingegangen - Peter schon gar nicht) den Aspekten der Ressource, des Handicaps, des Defizits, der Verpflichtung, der Chance… Dieses Schillern, Changieren, diese Ambivalenz geht unter der Metapher vom Kapital verloren, weil sie zumindest eine Zuordnung zu Soll oder Haben impliziert. (Das zeigt sich auch im Sprachgebrauch der beiden Begriffe: Ressourcenblick ist ein verstehbares Wort – einen Kapitalblick verstünde man bestenfalls als Onkel Dagoberts Dollarzeichen in den Augen. Er mutet seltsam an, weil jede/r weiß, dass der Saldo auf dem Konto keine Sache der Sichtweise ist.)

Ich gebe dir Recht – dieser Verlust an Ambivalenz bietet hervorragende Möglichkeiten zur Entlarvung (allerdings weniger zur Veränderung).

Trotzdem: Dein Satz „Ich schaffe die begriffliche Möglichkeit, ‚Sinn’ auch in anderen Währungen zu finden, für die es (noch) kein Äquivalent zu geben scheint“ war für mich einer, der mich aufhorchen ließ und mein Interesse weckt. Denn ich habe viel über dafür, sich mit der „schmutzigen Welt der Praxen und Doings“ auch empirisch zu beschäftigen – das habe ich ja auch schon zu betonen versucht: Ich halte all die Instrumente zur Kartographie (eine sehr brauchbare Metapher, weil sie das Perspektivische, Mediale unverlierbar in sich trägt) von „weichen“, subjektiven Realitäten (wie Beziehungsnetze, Beziehungsnähe, Verpflichtungsgrade…) für sehr spannend – wenn ihr perspektivischer Charakter gewahrt bleibt.

Zu deinem letzten Absatz: Das Anliegen, „mit diesem Irrglauben der reinen, vom Sein abspaltbaren Erkenntnis aufzuräumen“ glaube ich ebenso mit dir zu teilen (nur würde ich da statt Erkenntnis lieber Bewusstsein sagen): Es geht mir ja gerade nicht um Abspaltung, sondern um Verknüpfung, Verschränkung – die bedarf allerdings erst der Unterscheidung (bei Marx ist die übrigens noch klar – halt, obsoleterweise, einseitig hierarchisiert, „das Sein bestimmt das Bewusstsein“).

Die meiner Ansicht nach gar nicht elitäre oder elfenbeintürmige, sondern (gerade für die Sozialarbeit) höchst praktische Notwendigkeit dieser Unterscheidung nochmals zu erklären, ist mit Peters letztem Mail („Stichwort: ratlos“) sowieso gegeben, du hast es ja gelesen. Davon also später noch mehr!

Liebe Grüße

Meinrad