Soziales Kapital?

zack-bumm! (Meinrad Winge)

Lieber Peter,

danke – und entschuldige bitte meine etwas verzögerte Reaktion, aber die Nächte nach der Lektüre deiner Replik konnte ich nicht zum Schreiben nutzen, weil ich ausgezeichnet geschlafen habe…

Ansonsten: Offenbar brauche ich ein paar Anläufe, um mich einigermaßen verständlich zu machen. Also probieren wir, uns nochmals an den Kern der Sache heranzutasten:

Dir geht es, so schreibst du, in der Arbeit mit KlientInnen darum, ohne Wertung „zunächst zu bilanzieren, was ist“. Den Satz kenne ich gut – z.B. aus HelferInnen-Konferenzen: Ich höre ihn von der Psychologin mit ihren Befunden (evidence-based); vom Kinderpsychiater (tiefenpsychologisch); von der Sonderpädagogin, der Kindergärtnerin… Sie alle wollen zunächst gar nicht werten, sondern einfach „vorerst nüchtern“ feststellen, was ist; was der Fall ist; was Sache ist. Und der Kampf, die Konkurrenz darum, was hier (eigentlich, wirklich) der Fall ist, ist bereits in schönstem Gange. Außer – es sei denn, es gelänge den Beteiligten, sich klar zu machen, dass sie nicht wissen können, „was ist“. Dass die Unterschiede, die sie beobachten, nicht in der Sache an sich liegen, sondern Ergebnis ihrer Unterschiedsbildungen sind. Ergebnis ihrer Raster, ihrer Differenzierungen. Und die daraus jeweils konstruierten Bilder sind meist alle hoch nützlich, sofern sie als Sichtweisen betrachtet werden, als Modelle, Hypothesen. Eine Beobachtung sagt weit mehr über den Beobachter aus als über das Beobachtete, sagt uns ausgerechnet die Naturwissenschaft. Du selbst lieferst dafür übrigens ein wunderschönes Beispiel in deiner Replik: Du trägst deine Kategorien, deinen Raster von Gut-Böse an meinen Text heran, (wo grad einmal von „wenig brauchbar“ die Rede ist) – und siehe da, du findest!

Also, das scheint mir der springende Punkt zu sein: Wir brauchen eine Terminologie, Metaphern, die es erleichtern, das Perspektivische unserer Beobachtungen nicht allzu schnell aus den Augen zu verlieren – und dafür ist das Reden von Kapital im Zusammenhang von Kommunikationen und Beziehungen denkbar ungünstig. Es führt nämlich rasant genau zu jenem Werten, gegen das du zu Recht Stellung nimmst. Das hat sich in deiner Replik für mich noch ein Stück weit bestätigt:

Wie kannst du denn „bilanzieren“, den „Kontostand persönlicher Verpflichtungen“ feststellen, wie du dir’s vornimmst, ohne zu bewerten? Dafür musst du ja alles, „was ist“, jeweils auf eine Seite buchen, entweder als Besitz oder als Schulden, und ihm einen Wert zuweisen – und zack-bumm ist die Bewertung geschehen (nämlich im Sinne der Höhe des Werts, bitte nicht wieder im Gut-Böse/Jüngstes Gericht-Horizont!). Eben noch wolltest du „Bewertung möglichst lange aufschieben“, ja überhaupt „Bewertung der Beziehungen als ‚hilfreich’ oder ‚belastend’ vermeiden“ – da verrechnest du auch schon ein paar Zeilen weiter – zack-bumm – den Wert verschiedener Beziehungen gegeneinander, machst sie zum zerstörbaren, kostbaren Gut bzw. zum Störfaktor… Ja, so passiert’s. Sinnvoller erscheint mir da doch, Beziehungen in ihrer Offenheit zu sehen, in ihrer, wie du sagst (und da bin ich ja so was von bei dir), „Widersprüchlichkeit und Ambivalenz“: Sie können eben gleichzeitig Potential und Hürde sein, Herausforderung, Chance, Problem oder Ressource, je nach Blickwinkel. Natürlich nur, wenn diese Begriffe nicht so stumpfsinnig verwendet werden, wie du unterstellst, dass sie verwendet werden (je mehr Ressource, desto mehr Menschlichkeit oder so) – dass ich das so nicht verstehe, habe ich einen Absatz lang ausgeführt, von der nötigen Balance der Perspektiven gesprochen etc. – das hast du vielleicht überlesen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich finde es meist äußerst sinnvoll, Beziehungsnetze aufzuzeichnen etc. etc. – gar nicht sinnvoll finde ich bloß, sie dann gleich als Kapital zu substanzialisieren, als, wie du es thematisierst, von Zerstörung bedrohten Schatz positiv zu bewerten, eindeutig und statisch dem Haben oder Soll (entweder oder! wo bleibt denn da die Ambivalenz?) eines imaginären Kontostands zuzuweisen, den Saldo zu bilden – und dann noch zu meinen, damit die Möglichkeiten, „die Handlungs- und Lebensbedingungen“ von Menschen erfasst zu haben.

Die Sache mit der Identitätslosigkeit der Sozialarbeit als ihre Identität halte ich übrigens für Unsinn – die Schärfung der Begriffe ist genau mein Anliegen:

Besteht nicht die Identität der Sozialarbeit genau darin, das perspektivische Kommunizieren – als freie Bewegung in (Be)Deutungsräumen – mit dem materiellen Intervenieren – als Schaffung von Gegebenheiten – planvoll zu verknüpfen? Sozusagen Gespräch/Beratung mit materieller Leistung (Lieferung wie Entzug)? Kommunikation mit Transfer? Die beiden Bereiche folgen allerdings unterschiedlichen Gesetzlichkeiten – der komplexen System-Umwelt-Relation einerseits, dem linearen Ursache-Wirkungsprinzip andererseits. Die Verknüpfung beider Sphären in der Praxis Sozialer Arbeit erfordert für ihre Theorie mit Sicherheit mehr als ihr kurzschlüssiges Zusammenführen in eine schiefe Metapher.

Liebe Grüße

Meinrad