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(Text von Peter Pantucek zum untenstehenden Prozessbericht)

Verurteilung eines Sozialarbeiters

Ein Prozessbericht
Margarete Niedermayr

Dezember 2006



Angeklagt wurde nach § 92 StGb, Vernächlässigung/Quälen einer unmündigen/wehrlosen Person, verurteilt wurde nach § 81 StGb, fahrlässige Tötung. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, die Staatsanwaltschaft hat ob des zu milden Urteiles Berufung eingelegt.

Der Berufsverband hat die Verhandlung am Landesgericht Steyr zwei Tage lang verfolgt.

Das mediale Interesse war groß. Bereits im Vorjahr, nach dem Tod der 17-jährigen Martina, wurde in den Medien ausführlich berichtet. Neben dem Sozialarbeiter wurde der zuständige Amtsarzt und die Mutter angeklagt. Die Mutter wurde damals in die Psychiatrische Klinik Linz eingewiesen, wo sie sich bis heute befindet. Der Prozess gegen den Amtsarzt findet erst statt, der Prozess gegen die Mutter wird im Dezember wiederholt.

Die Anklageschrift der Staatsanwältin war erdrückend. Jahrelang war die missliche Situation des Mädchens bekannt. Zugespitzt hat sich die Situation im November 2003. Das Mädchen wog 31 kg, bei einer Körpergröße von 1,62 cm. Ihr Leidensweg endete am 22. oder 23. Mai 2004. Die Familie hat den Tod erst am 24. Mai bemerkt.

Der angeklagte Sozialarbeiter war zwei Wochen zuvor gemeinsam mit dem Pflegschaftsrichter bei Martina und ihrer Mutter. Die Jugendwohlfahrt hat im April 2004 einen Antrag auf Übertragung der Obsorge in medizinischen Bereichen bei Gericht eingebracht. Mutter und Tochter haben zwei Ladungen keine Folge geleistet, woraufhin der Richter einen Hausbesuch machte. Das Mädchen war nicht bettlägrig, sie konnte der Einvernahme folgen und wurde aufgefordert sich zu wägen Das vom Richter und dem Sozialarbeiter nicht nachkontrollierte Gewicht wurde in bekleidetem Zustand mit 38 kg angegeben. Es wurde vereinbart, dass der Sozialarbeiter sich um eine Aufnahme in der Kinderabteilung des Krankenhauses Steyr kümmern solle. Sollte das Mädchen diesem Termin nicht folgen, würde die Übertragung der Obsorge an die Jugendwohlfahrt angekündigt. Der Sozialarbeiter hat zwei Tage später mit dem zuständigen Arzt im Krankenhaus telefoniert, der eine unmittelbare Aufnahme zusagte. Der kontaktierte Arzt hat nach diesem Telefonat die Station verständigt und um die sofortige Reservierung eines Bettes ersucht. Der Sozialarbeiter hat in der Folge keine Handlungen mehr gesetzt, 12 Tage später war das Mädchen tot. Im Endeffekt führte diese Unterlassung zur Verurteilung des Sozialarbeiters. Die Mutter hat in ihrer Zeugenaussage angegeben, dass sie auf einen Anruf des Sozialarbeiters gewartet und zumindest eine Untersuchung im Krankenhaus nicht vereitelt hätte. Der Richter hat den Akt auf Anfang Juni 04 kalendiert und war der Meinung, dass bis dorthin die Krankenhausbehandlung schon abgeschlossen sein sollte.

Die Staatsanwaltschaft hat die fehlende Betreuung lange vor diesem Zeitpunkt kritisiert. Die Familie wurde bereits von 1995 bis 1997 vom gleichen Sozialarbeiter betreut. Anlass war ein Bericht des Kinderspitals Linz. Der ältere Bruder hatte enorme Essprobleme, hat nur Konserven und alleine gegessen, oft unter dem Bett. Dr. Gerstl hat die Familiensituation der Jugendwohlfahrt gemeldet und um Betreuung ersucht. Die 1995 aufgenommene Betreuung wurde 1997 abgebrochen, da sich der Zustand des Kindes laut Jugendwohlfahrt verbessert habe.

Von 1999 bis 2002 gab es, um die Unterhaltszahlung einzutreiben, lediglich formellen Kontakt mit der Mutter, also keine Betreuung.

Ende 2002 schaltet der Klassenvorstand eine Schulärztin ein, da Martina Ausschläge hat, verändert wirkt, sich auch beim Turnunterricht nicht umzieht und an keinen gemeinsamen Aktivitäten wie Schulschikurs teilnimmt. Sie wiegt 46 kg. Die Ärztin meldet den Fall der Jugendwohlfahrt. Martina bleibt krankheitsbedingt der Schule fern. Der Sozialarbeiter schaltet sich ein und nimmt die Betreuung wieder auf. Beim Hausbesuch Ende 2002 beteuern Mutter und Tochter, dass sie in der folgenden Woche wieder zur Schule gehen würde. Sie ist nie wieder zur Schule gegangen. Die Mutter hat die Tochter zwei Monate später von der Schule abgemeldet, der Klassenvorstand hat sich damit nicht zufrieden gegeben und Mutter und Tochter einen Brief geschrieben. Martina ist anschließend, wie verlangt, alleine zur Lehrerin gekommen und hat dabei erklärt, dass sie die Schule nicht mehr besuchen wolle. Das Mädchen wirkte laut der Lehrerin extrem von der Mutter beeinflusst. Da Martina nicht mehr schulpflichtig war, hatte die Schule keine Eingriffsmöglichkeiten.

Der Sozialarbeiter glaubte den Zusicherungen von Mutter und Tochter, dass sie die Schule wieder besuchen würde. Der nächste Hausbesuch erfolgte erst Monate später, nachdem es wieder Meldungen an die Jugendwohlfahrt gab. Von Ende 2002 bis Mai 2004 sind sieben Hausbesuche des Sozialarbeiters dokumentiert. Das Mädchen hat von Ende 2002 bis zu ihrem Tod keine Schule mehr besucht, keine Lehre angestrebt und völlig isoliert zu Hause gelebt.

Mehrere Ärzte, die beim Prozess aussagten, haben Meldungen an die Jugendwohlfahrt gemacht und auf die Dringlichkeit einer Intervention hingewiesen (laut § 54 Ärztegesetz sind Ärzte verpflichtet, Missstände an die Behörde zu melden). Der Vater und die Nachbarin haben mehrmals die Behörde um ein Einschreiten ersucht.

Der Hausarzt bricht die Betreuung Mitte 2003 ab, da die Mutter uneinsichtig und unkooperativ ist. Der Arzt teilt dies der Jugendwohlfahrt mit und fordert eine sofortige Intervention.

Im November 2003 fährt die Mutter mit Martina und einem Bruder zu einer Untersuchung zum Bundessozialamt, da sie die erhöhte Familienbeihilfe für diese beiden Kinder beantragt hat (es gibt noch drei weitere Brüder). Die Ärztin des Bundessozialamtes meldet ihre Bedenken dem zuständigen Amtsarzt und weist auf die Dringlichkeit einer Intervention hin. Der Amtsarzt schickt das Mädchen zu einer Ärztin. Die Mutter begleitet die Tochter, die nur mehr 31 kg wiegt, in die Ordination. Eine stationäre Behandlung wird von beiden strikt abgelehnt. Die Ärztin versucht, eine ambulante Behandlung zu starten und verlangt einen Ernährungsplan. Die Mutter macht penibel Aufzeichnungen. Laut Ärztin ist die Ernährung einseitig und viel zu kalorienarm. Vier kurz aufeinander folgende Termine werden von den beiden wahrgenommen, die anschließenden Termine nicht mehr eingehalten. Die Ärztin telefoniert Mitte Jänner 2004 und Mitte Februar 2004 mit dem Sozialarbeiter und weist auf eine unumgängliche Intervention hin: ´ansonsten werde es schlecht ausgehen`.
Der Gemeindearzt schaltet sich über Ersuchen der Mutter im Februar 2004 ein. Er sieht keine Lebensbedrohung, es ist ihm aber klar, dass das Mädchen nicht in der Familie bleiben kann. Er nimmt daraufhin mit der Jugendwohlfahrt Kontakt auf. Der Sozialarbeiter versucht erfolglos, die Mutter zu einem Krankenhausaufenthalt der Tochter zu überreden. Erst am 21.04.05 wird der Antrag auf Übertragung der Obsorge bei Gericht eingebracht. Für den Pflegschaftsrichter ist dies der erste Kontakt mit diesem Fall.

Insgesamt 17 Zeugen wurden während den zwei Verhandlungstagen einvernommen. sich der Der zuständige Amtsarzt hat sich der Aussage entschlagen, da gegen ihn selbst ein Prozess geführt werden wird. Ausgesagt haben der Bezirkshauptmann als Abteilungsleiter der Jugendwohlfahrt, zwei Sozialarbeiterinnen (Kolleginnen des Verurteilten), der Kindesvater, die Kindesmutter, drei Geschwister, eine Nachbarin, eine Lehrerin, der Pflegschaftsrichter und sechs involvierte Ärzte.

Arbeitsabläufe in der betroffenen Dienststelle:
Alle drei SozialarbeiterInnen haben übereinstimmend angegeben, dass es kaum Teambesprechungen bis zum verhandelten Fall gegeben hat: ´Manchmal wenn es der Arbeitsanfall zugelassen hat`. Der verurteilte Sozialarbeiter nahm keine Supervision in Anspruch. Akte werden von den Sozialarbeitern im Alleingang aufgenommen und auch geschlossen. Es bedarf keiner Rücksprache mit wem auch immer. Diese Vorgehensweise wurde von der Staatsanwältin und dem Richter mit Befremden aufgenommen.

Die mündliche Gutachtenserörterung des Sachverständigen Dr. Haller:
Die Familie war nach dem Auszug des Vaters 1998 und der Scheidung im Jahr 2000 unvollständig, die Mutter mit den fünf Kindern überfordert. Die Wahnerkrankung der Mutter hat sich schleichend entwickelt, war aber schon im Jahr 2002 manifest. Es gab keine Korrekturen von außen, eine Selbstkorrektur war nicht möglich, es wird in dieses Fällen von einer wahnhaften Wehrlosigkeit gesprochen.

Befragt durch den Richter, wie und wer in diesem Fall handeln hätte müssen, gibt der SV an: Das Überleben aller ist zu sichern, die Abkapselung ist zu durchbrechen, die Mutter ist aus dem System herauszunehmen, damit die Kinder der Induktion der Mutter entkommen. Die Familie hätte eine durchgehende professionelle Betreuung gebraucht. Da es sich um einen chronischen Prozess handelt, bedarf es mehr und nicht weniger an Betreuung.

Jeder, der von Amts wegen oder behördlich in diesem Fall involviert war, hätte etwas tun müssen. Für einen Sozialarbeiter hätte zumindest ab Juli 2003 erkennbar sein müssen, dass eine Intervention nötig ist und die Mutter unter einer starken psychischen Beeinträchtigung leidet. Dr. Haller verweist auf die psychiatrischen Vorlesungen in den Sozialakademien.
Der Sozialarbeiter müsse zwar nicht den Grad der Beeinträchtigung erkennen, aber die Brisanz der Situation. Jedenfalls ab Juli 2003 hätten Schritte gesetzt werden müssen: die Mutter einer psychiatrischen Behandlung zugeführt werden müssen (Zwangseinweisung), die Tochter in ein Kinderkrankenhaus eingewiesen gehört. Auch für die restlichen drei Geschwister wäre eine Trennung von der Mutter unerlässlich gewesen.

Die Beeinträchtigung der Mutter wird von mehreren Zeugen geschildert, auch in ihrer eigenen Zeugeneinvernahme nimmt sie dazu Stellung:
Die Mutter lässt sich von Gott lenken, meint mit viel beten, würde sich der Zustand der Tochter verbessern, Jesus rede mit ihr. Zudem leide sie unter Vergiftungsgedanken, die auch die Kinder übernehmen. Die Familie ernährt sich streng biologisch, vorwiegend vom eigenen überdimensionierten Hausgarten. Die Kinder nehmen von Nachbarn kein Essen an. Die Familie ist überzeugt, dass Martina im Falle eines Krankenhausaufenthaltes aufgrund der vergifteten Nahrung sterben müsse.

Der Sozialarbeiter gibt gegenüber dem Gericht an, dass das Wahngeschehen für ihn nicht ersichtlich war.

Zur Verteidigung des Sozialarbeiters:
Von der Behörde wurde dem Angeklagten ein Verteidiger zur Verfügung gestellt. Bemerkenswert war, dass der Anwalt nicht 1 mal das Wort Sozialarbeiter verwendet hat. Er hat sich in seiner Verteidigungsrede lediglich auf den Zeitraum zwischen dem 21.04.04 (Antrag einstweilige Verfügung) und dem Tod des Mädchens bezogen und darauf verwiesen, dass auch ein versierter Pflegschaftsrichter den Ernst der Situation nicht erkannt habe. In seinem Plädoyer hat er auf die Verantwortlichkeit der Ärzte und die Verantwortung der Eltern hingewiesen, aber kein Wort zur Arbeitssituation des Sozialarbeiters, seinen Bemühungen und Handlungen verloren. Kein Wort dazu, warum der Sozialarbeiter die Zeit zwischen dem 11.05.04 und dem 23.05.04 untätig verstreichen ließ.

Zur Verhandlungsführung durch den zuständigen Richter:
Der Richter reagierte teilweise sehr emotional und drängte den Sozialarbeiter, die Unterlassungen zu erklären. Der Richter wollte die Vorgänge verstehen, die Anforderungen an den Beruf eines Sozialarbeiters erklärt haben und wissen, wann Handlungsbedarf entsteht. Der Richter hat den Sozialarbeiter fast angefleht, etwas zur Rolle und Aufgabe eines Sozialarbeiters auszusagen. ´Warum gab es keine Alarmglocken bei einem Gewicht von 31 kg?... Es war doch offensichtlich, dass die Mutter geisteskrank ist... Die Mutter hat Sie doch die ganze Zeit gepflanzt und vertröstet... Haben Sie vor dem Zustand der Mutter die Augen zugemacht?... Die Kinder fehlen immer wieder einmal in der Schule und am Lehrplatz. Warum nimmt man diese Hinweise nicht auf?`

Meine Einschätzung als anwesende Prozessbeobachterin:
Es war schrecklich zuzuhören, welcher Druck in der Fallführung nötig war, um den Sozialarbeiter zu Handlungen zu bewegen. Diese dramatische Passivität macht das Urteil verständlich.

Zu wenig Unterstützung? Zu sicher, dass er nicht zur Verantwortung (der Betroffene leitet die Dienststelle) gezogen werden kann? Ist es die weit verbreitete Konfliktscheu, die in letzter Konsequenz tödlich enden kann?

Es war geradezu schmerzhaft der schlechten Verteidigungsführung durch den Anwalt zuzuhören. Der betroffene Sozialarbeiter jedoch war mit seiner Vertretung zufrieden, wie er mir selbst versichert hat. Mehrere Verhandlungspausen gaben mir Gelegenheit, mit anderen Zuhörern zu sprechen. Alle kritisierten die Verteidigung. Der Sozialarbeiter selbst hat äußerst vage ausgesagt, wobei dies auf Grund der Belastung durch die Anklage nicht überbewertet werden soll. In einer derartigen Situation müsste man sich aber umso mehr um eine gute anwaltliche Vertretung bemühen.

Dem Anwalt habe ich vor der Verhandlung angeboten, dass der Berufsverband einen Sachverständigen nominieren könne, was er kurzer Hand abgelehnt hat: ´Das werden wir nicht brauchen`. So einsam wie die Fallführung erfolgte, so einsam stand der Sozialarbeiter vor Gericht. Er konnte die ihm angebotene Hilfe nicht aufnehmen - eine Wehrlosigkeit, wie sie auch bei der Mutter festzustellen war.