Seminar„Kinderorientierung in der behördlichen Jugendwohlfahrt“
Linz, 15. + 16.11.2001
Peter + Gertraud Pantucek
www.pantucek.com
Thesenpapier
1. Kinderorientierung entspricht dem Auftrag der Jugendwohlfahrt
Die Ausrichtung auf das„Wohl des Kindes“ postuliert, dass die Kinder im Zentrum der Aufmerksamkeit des Jugendamts stehen. Dafür spricht auch die Aktenführung nach Namen der Kinder, die Notwendigkeit, Entscheidungen mit Bezug auf die Kinder zu begründen. Dem entspricht in keiner Weise die Möglichkeit der Kinder, Entscheidungen des Jugendamtes zu beeinflussen; die aktenkundige Wahrnehmung der Kinder als Personen; die Zeit, die für Kontakt mit den Kindern aufgewendet wird; die Präsenz der Kinder in Amtsräumen; die Präsenz der Fachkräfte in der kindlichen Welt. These: Kinder sind Objekte, nicht Subjekte der Jugendwohlfahrt. Die Jugendwohlfahrt verdoppelt damit die Degradierung der Kinder zum (widerspenstigen) Objekt, die für die KlientInnenfamilien charakteristisch ist.
2. Kinderbeteiligung ist eine moralische Frage
Die Einlösung des Versprechens, das in der Verpflichtung auf das Kindeswohl liegt, ist eine moralische Bringschuld des„Amtes für Jugend und Familie“. In den bisherigen Strukturen gelang das nur marginal.
3. Kinderbeteiligung ist eine methodische Frage
Eine Vergrößerung der Mitwirkung von Kindern an den Entscheidungen und Interventionen der Jugendwohlfahrt erhöht die Erfolgsquote.
4. Die Welt der Kinder unterscheidet sich nicht nennenswert von der Welt der Erwachsenen. Sie ist zugänglich.
Es gibt kein grundsätzliches Hindernis, keinen„großen Graben“ zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt von Kindern und Jugendlichen. Die Welt der Kinder ist zugänglich, man muss sie nur betreten wollen.
5. Die Perspektive der Kinder unterscheidet sich wesentlich von der Perspektive der Erwachsenen. Dafür gibt es körperliche, biografische und soziale Voraussetzungen.
5a. Die biologischen Voraussetzungen
· Kleinheit
· relativ geringe Körperkontrolle
· relative Kraftlosigkeit
· Körperlichkeit (Dominanz von Körperlichkeit, Bewegungsdrang)
· Geschlechtlichkeit / ungeregelte Sexualität
5b. Die biografischen Voraussetzungen
· Kürze der bisherigen Biografie
· verkürzte Zeitperspektive
· Naturhaftigkeit der Welt, vor allem der familiären Welt
· Hohes Maß an Anpassung an den Dschungel, in den sie hineingeboren wurden
5c. Die sozialen Voraussetzungen
· Kindheit als Phase reduzierter Verantwortung
· Kindheit als Phase der existenziellen Abhängigkeit
· Kindheit als Phase des Lernens
· Kindheit als Phase des Spielens
· Metaphern als Hauptform abstrakten Denkens
· Kindheit als langsame und schrittweise Überwindung der Unmittelbarkeit
· geringere Mobilität
· Kindheit als Phase mannigfaltiger Ausschlüsse
5d. Kindliche Selbstinszenierungen (stark altersabhängig)
· spezifisches Vokabular
· unmittelbarerer Gefühlsausdruck
· Pragmatismus / Egoismus (letzterer als Reaktion auf Verantwortungsentlastung)
6. Jugendamt als geschlossenes System - die Theorie der geschlossenen Systeme
Wahrgenommen kann nur werden, was die Organisation zu ihrem eigenen Prozess macht. In bürokratischen Organisationen ist das i.d.R. der Akt, allgemeiner gesprochen die Entscheidung. Die Unfähigkeit von Kindern, in organisationsrelevanter Sprache zu kommunizieren, schließt sie aus der Perspektive der Organisation aus ---> Kinder können von einer Behörde nicht wahrgenommen werden. Sie können nur in der Beschreibung durch Personen wahrgenommen werden, die anschlussfähige Kommunikation gestalten können (Gutachten, Anträge etc.) Solange das Jugendamt eine Behörde ist, können Kinder nicht als Subjekte vorkommen. Außer: Man macht Kinder zu handlungsfähigen Personen im Sinne der Behörde (antragsfähig), dann sind sie das aber nicht als Kinder (s.o.), sondern als fiktive Erwachsene. Ein Dilemma!
--> Übung: Wie können Kinder in der Organisation sichtbar werden? Entwicklung von Ideen.
7. Kinderbeteiligung heißt Lebensweltorientierung
Kinder haben nur relativ geringe Möglichkeiten, ihre Autonomie gegenüber von ihnen wenig durchschauten und durchschaubaren Organisationen wie dem Jugendamt (mit dem sie immer wieder nur punktuell zu tun haben und daher keine erfahrungsbasierte Strategien entwickeln können) zur Geltung zu bringen . In problematischen familiären Kontexten sind die Strategien zur Bewahrung der Autonomie häufig selbstschädigend oder kontraproduktiv. Da es nicht gilt, die Kinder zu professionellen Usern des Sozialsystems zu machen, wird die Strategie zu ihrer Unterstützung in ihrem familiären und lebensweltlichen Kontext ansetzen müssen. Zu diesem lebensweltlichen Kontext gehört auch die Peer-Group. Kinder wahrzunehmen und als Subjekte zu beteiligen verlangt also eine Ausrichtung auf lebensweltliche, nicht auf institutionelle Ressourcen.
8. Lebensweltorientierung heißt: Nicht nur die Eltern im Blick haben
Die Lebenschancen von Kindern werden durch ein Set von Personen und (sozialen) Verhältnissen bestimmt, das weit über die Kernfamilie hinausreicht. In jedem konkreten Fall gilt es, dieses Set zu vermessen, seine Möglichkeiten auszuloten und so die Lebenswelt der Kinder wahrzunehmen.
9. Kinderorientierung erfordert Respekt vor den Eltern
Es hilft Kindern nicht, wenn man in Konkurrenz zu ihren Eltern tritt. Im Gegenteil, man wird immer wieder Ansprüche der Eltern bestätigen und darauf bestehen müssen, dass die Eltern ein wesentlicher Teil der kindlichen Welt bleiben werden.
10. Kinderorientierung verlangt längere Wege
· Verlängerung der Phase des Beziehungsaufbaus
§ trotzdem steht die Frage: „was will die von mir?“,„was soll das ganze?“
· Settinggestaltung
§ Hausbesuche (Kinder als Führer)
§ andere offene Settings (Tiergarten z.B.)
§ neutrale, nicht-amtliche kindergerechte Orte, die sie vorerst selbst erkunden können (Schutzräume)
11. Kinderbeteiligung hat Information zur Voraussetzung
· Vor- und Nachbesprechung von Familiensitzungen mit Kindern („Coaching“)
· Recht auf wiederholte Erklärungen dessen, was passiert ist, was gerade passiert + was passieren wird
· sollen Kinder„überlistet“ werden (d.h. dass sie keine Kontrolle darüber haben, was exploriert wird und welche Schlüsse daraus gezogen werden)?
12. Kinder haben ein Recht auf Respektierung ihres Kind-Seins (sh. auch Pkt. 5)
· Recht der Kinder auf Entlastung von biografiewichtigen Entscheidungen
· Recht auf Trotz und Widerstand + ein Recht darauf, dass dieser Widerstand mitunter auch folgenlos bleibt (die Entscheidung nicht aufgrund des Widerstands revidiert wird)
· Kind hat ein Recht auf Erwachsene, die auf sich selbst schauen.
· Recht auf schützende Eingriffe
· Akzeptieren ihres Rechts,„unfair“ zu agieren
13. Kinder haben ein Recht auf Respekt
· Akzeptieren ihres So-Seins und ihrer Geschichte (inklusive ihrer Abhängigkeiten, ihres Opportunismus etc.)
· Inszenierungen von Respekt vor ihrem Körper
· Respekt vor ihren formulierten Bedürfnissen (nicht Lösungen)
· Akzeptieren des Agenda-Settings durch Kinder, bei gleichzeitigem eigenen klaren Agenda-Setting
14. Kinder haben ein Recht auf Kontinuität, zumindest aber auf begleitete Übergänge
Die Versetzung von Kindern in einen anderen Weltzusammenhang bedeutet für sie einen radikalen Bruch in ihrer Biografie, ein Trauma. Solche Brüche sind, wenn sie schon nicht vermieden werden können, möglichst abzufedern. Es darf nicht den Kindern allein überlassen bleiben, den Zusammenhang ihrer Biografie, ihrer Identität herzustellen. Schaffen von „Klammern“ zwischen verschiedenen biografischen Phasen.
15. Kinder haben ein Recht darauf, dass man sich bemüht, sie zu verstehen
An anderer Stelle habe ich das als „Verzicht auf die Diagnose“ beschrieben: Damit ist ein bewusster Verzicht auf Abkürzungen gemeint, die gleich das ganze Paket des kindlichen Verhaltens„im Stück“ erklären. Kinder sind aushaltbar, sie sind verstehbar. Ihr Verhalten, wenn es noch so pathologisch erscheint, hat einen konkreten Sinn.