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Methodenentwicklung und Soziale Diagnostik

Erstellt am Samstag, 17. Dezember 2016 15:24

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Pantuček-Eisenbacher, Peter (2016): Methodenentwicklung und Soziale Diagnostik. Über den hilfreichen Einsatz des Nicht-Wissens von Profis. In: sozialmagazin 9-10.  S. 38-46.

von Peter Pantuček-Eisenbacher

Wie am Beginn der Entwicklung der Sozialarbeit als Beruf kann auch heute die Beschäftigung mit Sozialer Diagnostik den Blick auf die „Essentials“ schärfen. Es geht nicht nur darum, was diagnostiziert wird, sondern auch darum, wie das gemacht wird. Eine nicht-paternalistische Methodik braucht dialogische Verfahren der Diagnostik, die Klient/innen und ihre Unterstützer/innen klüger macht. 

Am Beginn der Entwicklung der Sozialen Arbeit als Profession mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Fundierung stand die Bemühung, ihr – ganz nach dem erfolgreichen Muster der Medizin – ein diagnostisches Werkzeug in die Hand zu geben, das die Sozialarbeiterinnen als Expertinnen des Sozialen, als die Diagnostikerinnen der Hilfsbedürftigkeit für das Wohlfahrtswesen unentbehrlich machen sollten. Im Vergleich zu Medizin und Psychotherapie agiert Soziale Arbeit aber in noch komplexeren und schlechter planbaren Environments und ist bei ihrer Diagnostik und Vorgehensplanung mit Problemen der Unübersichtlichkeit und der Unvorhersehbarkeit konfrontiert.

Dazu kommt, dass Soziale Arbeit bei ihrer Informationsgewinnung über den Fall zwar nicht ausschließlich, aber doch weitgehend auf Gespräche angewiesen ist, und die Qualität der Informationen vom Gelingen der Gesprächsführung abhängt. Der Prozess der Sozialarbeit ist eben nicht durch den aus der Medizin bekannten Dreischritt Anamnese – Diagnose – Intervention gekennzeichnet, sondern die Anamnese ist schon Beratung, diagnostische Schritte sind bereits Interventionen, und Interventionen treiben die Diagnose voran. Wir beobachten einen anspruchsvollen Prozess des Dialogs der Praktiker/innen mit den Klient/innen und deren Umfeld, der gesprächsförmig und eingreifend-organisierend ist. Über soziale Diagnose zu sprechen, ist also auch ein Sprechen über Methodik. Diese zu konzeptualisieren ist mit Vorstellungen vom Hilfsprozess eng verbunden.

An der Hochschule St. Pölten in Österreich wird dieses Projekt seit einem Jahrzehnt verfolgt. Grundlage dafür ist ein sozialarbeiterisches Methodenverständnis mit einigen zentralen Elementen:

Aktuelle staatliche Sozialpolitik scheint die Verantwortung für Ausgrenzung und Armut den betroffenen Individuen zuzuschanzen. Sie steckt Geld in mit Zwangselementen angereicherte Ertüchtigungsprogramme. Umso wichtiger ist es daher, sich von dem damit bestens kompatiblen Verständnis von Sozialarbeit als in erster Linie pädagogischem Programm zu distanzieren. „Bildungsprozesse“ sind Nebeneffekte erfolgreicher Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen – auch, aber nicht nur professionell unterstützter Bewältigung. Die Initiierung von Bildungsprozessen ist aber nicht das vorrangige Ziel der Sozialarbeit. Das Kriterium erfolgreicher Fallführung ist ein höherer Grad an Inklusion bzw. die wiedergewonnene Alltagsförmigkeit der Lebensführung (Pantuček 1998). Wir gehen nicht davon aus, dass Klient/innen mehr als andere Personen Mängelwesen seien, denen erst die richtige Sicht auf ihre Lebensmöglichkeiten pädagogisch vermittelt werden müsste. Wir treten daher gerne in einen Dialog mit ihnen ein, um sie bei einer Verbesserung ihrer Lebenssituation zu unterstützen und um mit jenen, die von ausschließenden Mechanismen betroffen sind, Wege zur Inklusion zu erschließen.

In den letzten Jahren konzentrierten wir uns auf die Untersuchung, Entwicklung, Propagierung und Implementierung von Methoden, Verfahren und Techniken, die paternalistische Elemente und Praxen der Sozialarbeit ersetzen oder zurückdrängen können. Dabei wird immer deutlicher, dass die Frage der Ausgestaltung der Sozialen Diagnostik eng mit methodischen Fragen verknüpft ist, dass Diagnostik kein abgegrenzter Abschnitt im Prozess der Fallbearbeitung, sondern Teil des Aushandlungsprozesses und der Suche nach Lösungen ist – und dass wir uns bei der Thematisierung von Diagnostik permanent damit beschäftigen müssen, was Sozialarbeit macht und machen kann, was ihre Aufgaben, ihre Mittel und ihre Ziele sind.

Damit wandelt sich auch das Verständnis der Aufgaben der Profis im Unterstützungsprozess. Die naive und paternalistische Illusion ist, dass die Profis den Prozess in ihrer Hand haben, dessen Weg und Ziel bestimmen. In manchen der von uns vorgeschlagenen Modelle (zum Beispiel dem Familienrat und anderen Conferencing-Modellen) schlagen die Fachkräfte nicht mehr die Ziele und Lösungen vor, außer deutlich jenes, wozu sie berufen und verpflichtet sind – z.B. die Sicherheit des Kindes. Ihre Rolle verschiebt sich: Sie versuchen, Lösungssuche und Lösungsaushandlung zu ermöglichen und zu strukturieren. Die Implementierung vorgefertigter institutioneller Angebote soll nicht mehr die erste und dominierende Lösungsidee sein. Dadurch verlieren die Fachkräfte nicht an Bedeutung – sie stellen sich in den Dienst von lebensweltlich grundierten und generierten Lösungsmodellen. Erst vor diesem Hintergrund kann angemessener die Frage gestellt werden, inwieweit dabei auf institutionelle Unterstützungsformen zurückgegriffen werden kann und soll. 

Mit Anfang 2016 haben wir an der Hochschule einen Forschungsschwerpunkt „Methodenentwicklung und Soziale Diagnostik“ gegründet. In enger Zusammenarbeit mit der Praxis sollen brauchbare Werkzeuge für eine nicht-paternalistische Soziale Arbeit weiter entwickelt, ihre Implementierung gefördert und begleitet werden. Dabei können wir an zahlreiche Vorarbeiten anschließen, zum Beispiel an die Inklusions-Chart-Entwicklung, an die Bemühungen zur Etablierung des Familienrats und ähnlicher Conferencing-Modelle in Österreich, die Konzeptualisierung und Durchführung von Kurzinterventionen in Gemeinwesen.

 

Beispiel „Sorgeformulierung“

 

Ein imposantes Beispiel dafür, wie relativ kleine Änderungen in der Vorgangsweise große Änderungen in der Performance bewirken können, ist der Reformprozess in der Kinder- und Jugendhilfe der Steiermark. Aufbauend auf das von einem Team entwickelte Fachkonzept (Pantuček-Eisenbacher 2014) findet in der Steiermark derzeit ein Umbau der Kinder- und Jugendhilfe statt. Ein interessantes Element des Fachkonzepts ist die Übernahme einer diskursiven Technik, die aus dem Familienrats-Konzept bekannt ist: Die Fachkräfte nehmen ihre Rolle wahr, indem sie eine Sorge (i. d. R. um die Situation der Kinder) formulieren.

Der Vorschlag, Sorgeformulierungen als zentrales Element der Inszenierung der Fachkräfte im Gefährdungsabklärungsverfahren einzusetzen, entsprang diagnostischen Überlegungen: Wie kann es gelingen, unter erschwerten Bedingungen die Fachkräfte nicht in der Position einer über den Verhältnissen schwebenden Richterrolle zu inszenieren, damit Widerstand zu provozieren und das Finden von Lösungen zu erschweren? Wenn der diagnostische Prozess in erster Linie zu möglichen Lösungen führen soll, dann darf er die Klient/innen und deren Umfeld nicht (absichtlich oder unabsichtlich) kommunikativ ausschließen oder sie in eine Position versetzen, in der sie nur mehr ihre Bedürfnisse und Interessen gegen die Zumutungen einer besserwisserisch agierenden Behörde verteidigen müssen.

Für alle Phasen der Gefährdungsabklärung und Hilfeplanung wurde als Standard aufgenommen, dass die Fachkräfte der behördlichen Kinder- und Jugendhilfe ihre Intervention als „Sorge“ formulieren und mit ihrer Sorge begründen müssen. Damit änderte sich die Kommunikation mit den Familien stärker, als vorerst gedacht. Die Familienmitglieder reagieren auf die Sorgeäußerungen der Fachkräfte, indem sie ihrerseits Sorgen formulieren ­– worauf sich ein Dialog auf Augenhöhe entwickeln kann. Das gelingt deutlich besser, als der früher gängige Versuch, mit den Klient/innen über „Ziele“ oder deren „Willen“ zu sprechen. Sowohl Ziele als auch einen Willen (die Kraft und Motivation, eine selbstgewählte Entscheidung konsequent zu verfolgen) kann man schließlich erst am Ende eines Prozesses der Orientierung und Entscheidungsfindung haben. Von Anfang an über die „Sorge“ zu sprechen, die die Fachkräfte in ihrer Funktion haben, und in der Folge über die Sorgen der Beteiligten, das kann man im Sinne des Harvard-Konzepts des Verhandelns (vgl. Fisher et al. 2009) als Thematisierung der Bedürfnisse bzw. Interessen der Verhandlungsbeteiligten verstehen, die erst die Tür zu einem beiderseits befriedigenden Verhandlungsergebnis eröffnet. Die Gespräche über Gefährdung und Hilfeplan verlaufen nun substanziell anders und haben eher den Charakter einer Aushandlung, nicht mehr so stark jenen eines als Verhandlung getarnten Diktats. 

Wir beobachten bei dieser Entwicklung, wie der Einsatz geeigneter Techniken die Arbeit auch bei einer schwierigen Ausgangslage (hier: der Pflichtklientschaft) erleichtern und die Position der Klienten/innen stärken können. Die Technik der Formulierung einer Sorge erleichtert es, den diagnostischen Prozess als kooperativen und dialogischen zu verwirklichen. Sie ermöglicht den Klient/innen, eine Verteidigungsposition zu verlassen und ihre eigenen Sichtweisen einzubringen. In Verbindung mit einer Anwendung des „Signs of Safety“-Ansatzes (Roessler/Gaiswinkler 2012), der ebenfalls als kunstvolles Arrangement kooperativer Diagnostik – verbunden mit Lösungsgenerierung – verstanden werden kann, ist eine deutliche Verbesserung der Qualität von Gefährdungsabklärungen und der diskursiven Entwicklung von Sicherheits- und Hilfeplänen in Sicht.

 

Das Instrument „Inklusions-Chart (IC)“

 

Am Beispiel des Inklusions-Charts (Pantuček 2012, S. 239–273) kann gezeigt werden, wie die Prozesse von Theorieentwicklung, Methodenentwicklung und Weiterentwicklung eines sozialdiagnostischen Verfahrens miteinander verknüpft sind.

Am Beginn der Entwicklung des Instruments stand ein empirischer Zugang: Es wurden Erhebungs- und Dokumentationsbögen, oft „Sozialanamnesen“ genannt, wie sie in Organisationen der unterschiedlichsten Praxisfelder in Gebrauch sind, analysiert. Dabei fielen inhaltliche Gemeinsamkeiten auf. Ein Großteil der in den Sozialanamnesen gesammelten Daten betraf Aspekte der Lebenssituation, für deren Bearbeitung sich in der verbreiteten Fachliteratur nur wenige methodische Hinweise finden: die finanzielle Situation inklusive Ausgabenstruktur und Verschuldung; die Stellung der Person auf dem Arbeitsmarkt; die gesundheitliche Versorgung; die Wohnsituation; verwandtschaftliche Verhältnisse. Gemeinsam war diesen Datensammlungen allerdings auch das Fehlen einer begründeten Strukturierung bzw. einer Systematik der Datenanalyse. Bei keinem der untersuchten Instrumente fanden sich Hinweise darauf, was die gesammelten und dokumentierten Daten nun für die weitere Fallbearbeitung bedeuten könnten bzw. wie sie zu interpretieren seien.  So entstand das Bild einer Schieflage: Ein Gutteil dessen, womit sich Sozialarbeiter/innen offensichtlich beschäftigen, findet in der Fachliteratur wenig Beachtung. Es lag also nahe, genau jene Aspekte vorrangig in den Blick zu nehmen. Schließlich sollte ein Instrument entstehen, das die Fachkräfte bei den tatsächlichen Aufgaben – nämlich bei den Beiträgen zu einer Verbesserung der Lebenslage der Klient/innen – unterstützt.

Zuerst musste daher eine Systematik gesucht werden, nach der die ohnehin erhobenen sozialanamnestischen Daten in eine theoretisch begründbare Ordnung gebracht werden konnten. Diese Systematik wurde in einem systemtheoretisch begründeten Modell von Inklusion/Exklusion (Baecker 1994; Scherr 2015) gefunden, in dem die Aktivitäten Sozialer Arbeit zur Verbesserung des Zugangs der Klient/innen zu den gesellschaftlichen Ressourcen, die durch Funktionssysteme (Arbeitsmarkt, Bildungswesen, Gesundheitswesen etc.) bereitgestellt werden, gut abbildbar sind.

Die zweite Frage war, nach welchen Kriterien im Anschluss an die Situationsanalyse Interventionsentscheidungen getroffen und begründet werden könnten. Dafür wurde unter anderem auf Kriterien zurückgegriffen, die bereits in den 1990er-Jahren von Karls/Wandrei (1994) beim Versuch der Konzeptualisierung eines Klassifikationssystems der Sozialen Arbeit formuliert wurden. Die erste Version des Inklusions-Chart (IC) war das Resultat, das aus heutiger Sicht zwar eine brauchbare Grundstruktur legte, aber noch alles andere als ausgereift war.

Es folgte ein inzwischen achtjähriger Prozess der Praxiserprobung in sehr unterschiedlichen Praxisfeldern, der Übermittlung und Diskussion von Erfahrungsberichten und kritischen Stellungnahmen. Darauf aufbauend wurde versucht, das Instrument zu verbessern, gegebenenfalls zu ergänzen und die theoretische Fundierung zu erweitern. Das überschritt bald die Möglichkeiten eines einzelnen Autors. Zuerst waren es Forschungsgruppen, inzwischen ist es ein Board aus Expert/innen von Hochschule und unterschiedlichen Praxisfeldern aus Österreich und Deutschland, die daran arbeiten. Derzeit stehen wir kurz vor der Fertigstellung und Veröffentlichung der vierten Version (IC4) des Instruments. Probeläufe in so unterschiedlichen Feldern wie der offenen und nachgehenden Jugendarbeit, der Hilfe für geflüchtete Menschen, der stationären geriatrischen Versorgung und der Sozialpsychiatrie sind abgeschlossen.

In diesen Jahren hat sich nicht nur das Instrument verändert, sondern es ist auch das Verständnis der Essentials dessen, was Sozialarbeit ausmacht, umfassender und zugleich präziser geworden: das Themenspektrum, die Dynamiken der Entscheidungsfindung im Dialog mit den Klient/innen, die Rolle der Profis, die Verbindung der Einzelfallarbeit mit gesellschaftlichen Zielsetzungen. Ein Entwicklungsstrang sticht besonders hervor: Während die Erstversion noch in erster Linie als Instrument der Profis für ihre Situationseinschätzung gedacht war, trat zunehmend zuerst die Partizipation der Klient/innen in den Vordergrund, dann das Potenzial des Verfahrens als Instrument des Empowerment bzw. der Selbstermächtigung der Klient/innen. Angemerkt sei, dass das nicht in erster Linie einem Einstellungswandel des Autors bzw. bei späteren Versionen der Autor/innen geschuldet ist, sondern vielmehr den energisch vorantreibenden Interventionen der Praktiker/innen. Dies soll als Einwand gegenüber dem Vorurteil von der progressiven Hochschule und der defizitären Praxis eingebracht werden.

Anwendbarkeit und Übersichtlichkeit waren und sind Kriterien, die bei der Konzeptionierung und bei der Verbesserung des Instruments unerlässlich sind. Eine Prämisse für jede neue Version ist daher, dass der Umfang des Formulars 2 Seiten im Format A4 nicht überschreiten darf. Darauf haben nun 3 Achsen (Inklusion/Teilhabe, Niveau der Existenzsicherung, Funktionsfähigkeit) Platz, sowie Skalierungen und Einschätzungen von Entwicklungsdynamik, Grad der Substitution und Qualität der stellvertretenden Inklusion. Das Instrument ist komplex und trotzdem übersichtlich, es bietet Empfehlungen und Regeln für die Anwendung im Beratungsprozess, für die fachliche und kooperative Interpretation sowie für die Begründung von Interventions- und Nichtinterventionsentscheidungen.

 

Methodik: Relationalität und Zurücknahme professioneller Selbstgewissheit

 

Die Arbeit an der Diagnostik hat Auswirkungen auf das Methodenverständnis, auf die Definition der Rolle der Profis bei der Fallbearbeitung. Ihre spezielle Leistung wandelt sich. Je ausgefeilter wir die Instrumente entwickeln, erproben und die erfahrungsbasierten Regeln der erfolgreichen Anwendung in Manuals einfließen lassen, desto mehr übernehmen sie die Rolle von Expert/innen, die Klient/innen und ihr soziales Umfeld dabei unterstützen, ihre Situation selbst einzuschätzen und ihre eigenen Entscheidungen bewusst zu treffen. Die Profis werden dabei nicht arbeitslos, ihre Kenntnisse und Ressourcen sind weiterhin gefragt. Sie bestehen in der Bereitstellung von Werkzeugen zur Situationsanalyse und Entscheidungsfindung. Und sie bestehen in ihrer Expertise über den Zugang zu institutionellen Ressourcen, in ihrem möglichen Einfluss auf Entscheidungen relevanter Umwelten.

Um diese Rolle angemessen zu erfüllen, benötigen die Fachkräfte Fertigkeiten, die weit über das ihnen hoffentlich zur Verfügung stehende Repertoire lebensweltlicher Fertigkeiten hinausreichen, die sie sich im Zuge ihrer eigenen Hineinentwicklung in die gegenwärtige Gesellschaft angeeignet haben und die sie auch im Unterstützungsprozess anwenden können:

Gespräch und Beziehungsgestaltung bleiben zentrale Werkzeuge der Sozialen Arbeit. Dafür kann viel von Konzepten aus dem Grenzfeld zwischen Sozialarbeit und Psychotherapie gelernt werden, etwa von der lösungsorientierten systemischen Kurztherapie (DeShazer 2006), der klientenzentrierten Gesprächsführung (Weinberger 2013), der provokativen Beratung (Farrelly/Brandsma 2005), dem Motivational Interviewing (Miller/Rollnick 2015) und der Harvard-Methode des Verhandelns (Fisher et al. 2009). Diese Konzepte sollten in allen Studiengängen Sozialer Arbeit gelehrt werden. Sie sind nicht nur problemlösende Methoden, sie enthalten nicht nur „Therapie“. Richtig angewandt, haben sie umfangreiche Anteile kooperativer Diagnostik.

 

Soziale Diagnostik als Werkzeug für die Praktiker/innen

 

Instrumente Sozialer Diagnostik entwickeln – das bedeutet eine Auseinandersetzung mit der Frage, was denn nun die „eigentliche“ Arbeit der Sozialarbeiter/innen ist: Was sie wie bearbeiten und was sie günstig beeinflussen können. Nunmehr steht mit diagnostischen Instrumenten wie der Netzwerkkarte, dem Biographischen Zeitbalken, dem Inklusions-Chart und anderen ein Set an Instrumenten zur Verfügung, die das Areal der Interventionsfelder abstecken und strukturieren. Sie fokussieren auf die sozialen Erfahrungen und die soziale Einbindung von Personen. In der Arbeit mit den Klient/innen besteht der größte Gewinn darin, dass mithilfe der Verfahren ein bloß problembezogenes Gespräch thematisch verbreitert werden kann. Aspekte der Lebenssituation, inklusive der Rahmenbedingungen und bestehender Ressourcen, lassen sich thematisieren. Die zentralen Verfahren erleichtern die Einlösung eines alten Anspruchs: Im Gegensatz etwa zur hochspezialisierten Medizin soll die Lebenssituation ganzheitlich erfasst werden. Der etwas vage Begriff von „Ganzheitlichkeit“ meint abseits seines Missbrauchs in der Esoterik-Szene im sozialarbeiterischen Zusammenhang, dass Probleme nicht isoliert, sondern im Kontext der sozialen Situation und der komplexen alltäglichen Herausforderungen der Klient/nnen erfasst und angegangen werden sollen.

Im Laufe der Weiterentwicklung diagnostischer Verfahren wurden Manuals entworfen, die eine dialogische Vorgehensweise anleiten – die Grenzen zwischen Diagnostik und lösungsorientierter Intervention verschwimmen. 

 

 

Soziale Diagnostik als Werkzeug für die Klient/innen Sozialer Arbeit

 

Damit ist auch bereits der Nutzen für die Klient/innen angesprochen: Die kooperative Anwendung trägt zu einer Verbesserung der Handlungsfähigkeit bei, liefert ihnen „Landkarten“ der Situation, lässt Handlungsoptionen, Stärken und Ressourcen sichtbar werden. Dass die Verfahrensergebnisse den Klient/innen „gehören“ wird dadurch betont, dass das Ergebnis ihnen mitgegeben wird – da gibt es nichts, was vor ihnen zu verheimlichen wäre. Die Nutzung eines sozialdiagnostischen Instruments verlangsamt den Beratungsprozess – das ist auch gewünscht. Die Struktur, die sie vorgeben, ist vorerst unabhängig vom präsentierten Problem. Der problemzentrierte Fluss des Gesprächs wird unterbrochen, ein Blick von „oben“ oder „außen“ eingeführt und so der Horizont erweitert. Die Klient/innen sollten sich in Ruhe mit dem Ergebnis und den neu geschaffenen Bildern beschäftigen können, auch mit anderen als ausschließlich ihren professionellen Berater/innen.

 

Soziale Diagnostik und Methodenverständnis: Differente Standpunkte

In den Publikationen zur Sozialen Diagnostik wie auch in den Debatten des Boards, der die einschlägigen Konferenzen vorbereitet, sind sehr unterschiedliche Verständnisse vom Aufgabenfeld der Sozialen Arbeit sowie von sozialarbeiterischer Methodik vertreten. „Die“ Soziale Diagnostik gibt es also nur als einen Diskurszusammenhang, nicht jedoch als einheitliches Konzept. Das Spektrum reicht von stärker psychologisch orientierten Ansätzen (z.B. Gahleitner 2014), über ein normativ aufgeladenes Modell, das sich am Capability Approach (Nussbaum 1999, für die Soziale Arbeit Röh 2013) orientiert, bis eben zum St. Pöltener Modell einer nicht-paternalistischen Sozialen Arbeit, letzteres mit weitreichenden Konsequenzen für das Methodenverständnis. Das aus der Sozialpädagogik kommende Konzept des „Fallverstehens“ bzw. der stellvertretenden Deutung (Oevermann 1996) ist aus der Sicht des St. Pöltener Modells noch zu sehr einer expertokratischen Sicht verhaftet und blendet Fragen der Inklusion/Exklusion weitgehend aus.

Zusammenfassend: Die professionelle Leistung der Sozialarbeiter/innen besteht u. E. weniger in einem „Verstehen“ oder „stellvertretenden Deuten“ der Situation der Klient/innen, sondern vielmehr in der Bereitstellung einerseits von Techniken, die den Klient/innen und ihrem Umfeld selbst Überblick über ihre Situation und ihre Handlungsmöglichkeiten eröffnen, andererseits im Einsatz ihrer beruflichen Beziehungen und ihres institutionell unterfütterten Sozialen und Symbolischen Kapitals, um Klient/innen Wege zu eröffnen, die sie sich nicht selbst eröffnen können. Wir betonen die Bedeutung des fallbezogenen Nicht-Wissens der Profis, wie auch die Möglichkeit, sinnvolle und hilfreiche Interventionen unter Bedingungen des Wissens über das eigene Nicht-Wissen (zum Beispiel über die Lösungsmöglichkeiten) zu setzen – indem das Wissen, die Fantasie und das Verantwortungsbewusstsein der Klient/innen und ihres Umfelds genutzt wird. Das mag einem konventionellen Verständnis widersprechen, das Diagnostik als selbständige Phase eines Hilfeprozesses und als zentrale autonome Leistung der Profis versteht, auf deren Basis dann die Kur zu verordnen sei. Mit dieser Differenz zur allzu einfach gedachten Logik so mancher sozialer Programme eines sich zunehmend als „erziehend“ verstehenden Sozialstaats können wir recht gut leben.

 

Literatur

Baecker, D. (1994): Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie, H. 2, Stuttgart, S. 93–110.

DeShazer, St. (2006): Wege der erfolgreichen Kurztherapie. Stuttgart: Klett-Cotta.

Farrelly, F./Brandsma J. M. (2005): Provokative Therapie. Berlin: Springer.

Fisher, R./Ury, W., et al. (2009): Das Harvard-Konzept. Der Klassiker der Verhandlungstechnik. Frankfurt/Main, New York: Campus.

Gahleitner, S. B. (2014): Traumapädagogische Diagnostik und Intervention. In: Gahleitner, S. B. et al. (Hrsg.): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 251–279.

Karls, J.M./Wandrei, K. E. (Hrs.) (1994): PIE-Manual. Person-In-Environment System. Washington: NASW.

Miller, W. R./Rollnick, St. (2915): Motivierende Gesprächsführung. Motivational Interviewing. 3. Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Nussbaum, M. (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Oevermann, U. (1996): Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, A./Hesper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt/Main, S. 70–182.

Pantuček, P. (1998): Lebensweltorientierte Individualhilfe. Eine Einführung für Soziale Berufe. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Pantuček, P. (2012): Soziale Diagnostik. Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit. 3., aktualisierte Auflage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.

Pantuček-Eisenbacher, P. (2014): Entwurf für ein Fachkonzept der Kinder- und Jugendhilfe. Ein Diskussionsbeitrag. In: http://www.pantucek.com/texte/201401fachkonzept.pdf (Abruf: 7.7.2016).

Röh, D. (2013): Soziale Arbeit, Gerechtigkeit und das gute Leben. Eine Handlungstheorie zur daseinsmächtigen Lebensführung. Wiesbaden: Springer VS.

Roessler, M. / Gaiswinkler, W. (2012): Der Signs of Safety Ansatz. Ambivalenzmanagement, Praxis und Praxisforschung in der Jugendwohlfahrt. In: Brandstetter, M./Schmid, T., et al. (Hrsg.): Community Studies aus der Sozialen Arbeit. Wien: LIT Verlag, S. 223–265.

Scherr, A. (2015): Hilfe im System – was leistet Soziale Arbeit? In: Braches-Chyrek, R. (Hrsg.): Neue disziplinäre Ansätze in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 179–198.

Weinberger, S. (2013): Klientenzentrierte Gesprächsführung. Lern- und Praxisanleitung für psychosoziale Berufe, 14. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

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Peter Pantuček-Eisenbacher, Prof. Dr., ist Sozialarbeiter und Soziologe. Er leitet das Department Soziales an der FH St. Pölten und ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit.