Texte

Illusion Resozialisierung? - Parteilichkeit und der staatliche Auftrag

Parteilichkeit und der staatliche Auftrag

Ist das, was die Kollegin mit Anna gemacht hat, parteiliches Arbeiten gewesen? Ist es das weiterhin, auch jetzt, wo sie sich zur Aussage entschieden hat und damit eine Bestrafung von Anna riskiert?

Es ist und es ist nicht. Es ist parteilich so, wie Sozialarbeit parteilich sein soll: sich kümmernd um die Klientin, fürsorglich insistierend, auch dann, wenn Anna gerade auf Distanz gehen will. Diesen Distanzwunsch respektierend, aber doch immer wieder in Frage stellend. Da muss man nicht sagen, „es ist nur zu deinem besten“, da reicht die Feststellung, dass ich dich jetzt kennengelernt habe und dass du da auch hinnehmen musst, dass ich mich für dich interessiere. Ich. Ich als professionelle Person. Ich als Sozialarbeiterin mache mir Sorgen um dich.

Und indem ich mir Sorgen um Dich mache, macht sich die Gesellschaft Sorgen um Dich. Immer, wenn wir in unserer professionellen Rolle auftreten, treten wir nämlich als VertreterInnen der Gesellschaft auf. Sie bezahlt uns schließlich, irgendwelche politischen Instanzen haben beschlossen, so Typen wie mich dafür zu bezahlen. Das ist der Ausgangspunkt, das wissen die KlientInnen, so sehen sie uns, und wenn sie das nicht oder nicht mehr so sehen, dann haben wir einen Fehler gemacht oder sie sind sozial noch viel inkompetenter, als wir ohnehin gedacht haben, dass sie sind.

Wenn wir die Gesellschaft repräsentieren, dann wird uns Parteilichkeit für diese Gesellschaft zugeschrieben. Für jene, die „draußen“ sind, wenn wir schon dieses Wort verwenden wollen, also jene, die von mehreren Funktionssystemen exkludiert sind, sind wir jedenfalls vorerst Vertreterinnen und Vertreter des „drinnen“. Sind Leute mit Zugang.

Wir repräsentieren eine Möglichkeit des Lebens in der Gesellschaft – aber eines Lebens, das für die allermeisten Ihrer KlientInnen sehr weit entfernt ist, so nicht erreichbar. Wir sind Fremde, und wir müssen es sein.

Es ist sinnlos, sich vorzustellen, diese Fremdheit könnte aufgehoben werden oder bestehe gleich gar nicht. Wir leben mit dieser sozialen Distanz, sie ist Voraussetzung unserer Arbeit und gleichzeitig eine dauernde Behinderung, weil sie Verstehen so schwierig macht. Sie muss punktuell überwunden werden, und wir schaffen das mit 2 Instrumenten: Mit unseren Techniken des Gesprächs und der Annäherung, und mit unserem Mensch-Sein. Beides sind berufliche Formen, doch das zweitere berührt unsere Persönlichkeit, unsere Individualität intensiver. Ich will es erklären.

Wenn wir die Situation, in der die KlientInnen leben und agieren, begreifen wollen, als Lebenssituation begreifen wollen, dann müssen wir auf das zugreifen, was sie und uns ähnlich macht. Wir müssen potenziell ihre Lebenssituation, ihre Biografie, als mögliche eigene Biografie, als mögliche eigene Lebenssituation verstehen. Wir setzen uns ein Stück an ihre Stelle.

Ganz ohne diesen Versuch funktioniert Sozialarbeit nicht. Aber gleichzeitig sehen wir uns dabei zu, wie wir das tun, und schütteln den Kopf dabei, wissend, dass es eine Illusion ist, dass es nicht gelingen kann, dass ein hinreichend großer Rest des Nicht-Verstehens bleibt und dass es anmaßend ist, zu glauben, ich könnte die Perspektive der KlientInnen einnehmen.

In seinen einfachen Formen führt dieses „Denken an der Stelle der KlientInnen“ zu übler Besserwisserei. Glaubend, begriffen zu haben, worum es geht, meinen wir zu wissen, was die KlientInnen zu tun haben. Der Unmut wächst, wenn sie dann doch ganz anders tun. Eine andere Form des Scheiterns beim Perspektivenwechsel ist jene: Man denkt sich in die Lage der KlientInnen, und kaum dort angekommen, befällt uns das Selbstmitleid. Man fühlt sich als Opfer und man sieht die KlientInnen nur mehr als Opfer.

Beide Varianten eines zu kurzen Verstehens, einer Überschätzung unserer Fähigkeiten des Verstehens, führen zu schlechter Sozialarbeit, in der Regel auch zu schlechten Ergebnissen.

Man kann das auch als Mangel an Respekt beschreiben. Respekt, das ist das Bewusstsein von der sozialen Distanz, der Unüberwindbarkeit der Distanz zwischen Du und Ich, bei gleichzeitiger Anerkennung des Anderen als komplexem Gattungswesen wie ich. Respekt ist eine notwendige Bedingung für das Gelingen von Sozialer Arbeit. Und Respekt heißt immer, die anderen in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit, Autonomie und Eigenverantwortung anzuerkennen. Anzuerkennen in dem, dass sie uns letztlich unzugänglich bleiben.

Ich bin vom Begriff der Parteilichkeit ausgegangen. Und ich habe diesen Teil meines Referats mit einer Frage überschrieben, nämlich mit der Frage, ob Parteilichkeit eigentlich ein gutes Wort ist für das, was wir tun.

Ich bin mir nicht sicher, ob es ein gutes Wort ist – na ja, eigentlich bin ich mir sicher, dass es kein so gutes Wort ist. In seinem brauchbaren Bedeutungsgehalt drückt es etwas Selbstverständliches aus, nämlich dass wir unsere Tätigkeit als eine Tätigkeit im Interesse unserer KlientInnen verstehen und dass wir sie an diesen Interessen auch messen müssen. Wie haben das die amerikanischen KollegInnen formuliert:

„Social workers seek to enhance the capacity of people to address their own needs. Social workers also seek to promote the responsiveness of organizations, communities, and other social institutions to individuals' needs and social problems.“

und:

„A historic and defining feature of social work is the profession's focus on individual well-being in a social context and the well-being of society.“

Das „individual well-being in a social context“, da ist es. Da ist es formuliert, was den Kern der Sozialen Arbeit ausmacht: das Individualisieren und der soziale Kontext.

Das Wort von der Parteilichkeit unterstellt, dass diese Aufgabe mit einer radikalen Entscheidung, „sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen“ zu lösen sei, und da hege ich so meine Zweifel. Schon deswegen, weil das so einfach nicht geht. Die Selbstgerechtigkeit ist da allzunahe. Wie stelle ich mich auf die Seite meines wohnungslosen Klienten? Indem ich seinen überbordenden Alkoholkonsumlobe? Indem ich ihm beim Streit mit anderen helfe? Indem ich ihm alles glaube, was er mir so erzählt?

Parteilichkeit ist nicht einfach. Parteilichkeit ist nur dort relativ einfach, wo es um allgemeinere advokatorische Aufgaben geht. Wir werden für die Inklusion unserer KlientInnen streiten. Dafür, dass sie Zugang zu den Leistungen des Gesundheitswesens erhalten, dass sie Arbeit bekommen können, dass sie für ihre Schwächen nicht mit Leistungsentzügen bestraft werden. Wir werden für funktionierende soziale Adressen kämpfen, allgemein und im Einzelfall.

Und wenn Ihnen das Wort Parteilichkeit dabei hilft, diese Aktivitäten zu begründen, so können sie es schon verwenden. Aber wir machen all diese Aktionen nicht in erster Linie als gute Menschen, die sich dafür entschieden haben, ein Leben im Dienste der Unterdrückten zu führen. Wir machen es als bezahlte Agentinnen und Agenten der Gesellschaft, deren Mitglieder wir sind, und wir machen das auch im Interesse der Gesellschaft. Es ist unsere Funktion, diesen Teil der gesellschaftlichen Probleme zu bearbeiten. Wenn man so will, sind wir TechnologInnen der Inklusion, wichtig für das Funktionieren der Gesellschaft.

Oder so:

Sozialarbeit steht für eine individualisierende (subjektorientierte), akzeptierende (lebensweltorientierte), dialogische und somit sanfte Steuerung. In ihren besten Modellen unterstützt sie die organisierte Artikulation der Interessen ihrer Zielgruppen. Das ist dialektisch zu sehen: Eben dadurch, dass sie über beruflichen Ethos eine reine Steuerungsaufgabe verweigert, erfüllt sie ihre spezifische Steuerungsfunktion. Sie arbeitet mit der Paradoxie des Rufes von oben nach Selbststeuerung der Individuen. Methodisch geht sie davon aus, dass ihre KlientInnen sich schon selbst steuern, dass sie also schon dort angelangt sind, wo sie hinsollen. Nur so gelingt es ihr, Ermöglichung von Selbststeuerung auch als Anforderung an die soziale Umwelt der KlientInnen zu formulieren.

Bardmann (2001) schreibt von der „Schmuddeligkeit“ der Sozialarbeit, von „Eigenschaftslosigkeit als Eigenschaft“. Er betrachtet ihre Fähigkeit, sich nicht festlegen zu lassen, als Bedingung ihrer Möglichkeiten. Man könnte sagen, Sozialarbeit tut, was sie tun soll, und tut es doch nicht. Versuche, sie dazu zu bringen, dass sie endlich tut, was sie tun soll, würden dann dazu führen, dass sie nicht mehr tun kann, was sie soll. Oder anders: Wenn Sozialarbeit nur mehr Teil der Regierung ist, verschwindet sie als Profession.

Derzeit läuft die Soziale Arbeit Gefahr, ihre spezifische Funktion aufzugeben. Und zwar gerade deshalb, weil manche Institutionen der Sozialen Arbeit allzu eilfertig versuchen, ihrem vermeintlichen gesellschaftlichen Auftrag nachzukommen. Wenn Soziale Arbeit genau das macht, was die Politik von ihr verlangt, wird sie bald entbehrlich sein. Nur dann, wenn sie die Vorgaben der Politik zwar zur Kenntnis nimmt, aber unterläuft, bleibt sie nützlich. Sie funktioniert, weil sie nicht in erster Linie kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist. Sie bekommt Geld, weil sie auch kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist. Sie ist Teil des Regierens, daher kann sie weiterhin sein. Sie ist besonders wirksam, wo sie ihre Existenzbedingungen unterläuft. Und jene Sozialarbeitswissenschaft, jene sozialarbeiterische Praxis ist klug, die diesen Widerspruch, diese Dialektik im Blick behält.


Bardmann, Theodor M. (2001): Eigenschaftslosigkeit als Eigenschaft. Soziale Arbeit im Lichte der Kybernetik des Heinz von Foerster. In: Das gepfefferte Ferkel. Online-Journal für systemisches Denken und Handeln November 2001: http://www.ibs-networld.de/ferkel/von-foerster-05.shtml am 8.3.2002.

Bratic, Ljubomir / Pantucek, Peter (2004): Sie haben ein Problem. Soziale Arbeit als Form des Regierens. In: Fachhochschule St.Pölten (Hg.): FACTS Band 2, Der gläserne Mensch – Europäisierung. Wien. S. 35-50.